Die seelischen Entwicklungsphasen des Kindes
Über die körperliche Entwicklung des Kindes ist in den letzten Jahren viel geschrieben worden, aber was passiert im Innern – in den Kinderseelen? Heutzutage wurden Schematas entwickelt, um Anhaltspunkte für den Entwicklungsstand der Kinder zu bekommen. Diese begründen sich meist rein auf äußerliche Merkmale. Dabei werden die seelischen Aspekte kaum berücksichtigt, da man sie in der Vergangenheit auch kaum erforscht und beachtet hat. Wenn ein Kind heute nicht ins gängige Schema passt, wird es „als krank oder als zurückgeblieben“ eingestuft und kommt, wenn es unglücklich läuft, auch gleich in eine sogenannte Förderklasse. Somit hat das Kind von Beginn an seinen Stempel, was weitreichende Folgen für die weitere seelische Entwicklung hat. Frühzeitig wird ein Glaubenssatz im Kind manifestiert: „Etwas stimmt mit mir nicht, ich bin nicht richtig.“
Bernhard Lievegoed hat bereits vor über 60 Jahren ein Buch über die seelischen Entwicklungsstufen des Kindes geschrieben und darauf hingewiesen, dass sie Eingang in die Erziehung und Kindergarten sowie Schule halten sollten und besonders bei Ärzten und Eltern. Kann man sich in einen anderen Menschen doch nur hineinversetzen, wenn man um sein Wesen weiß. Ohne ein entsprechendes Bewusstsein über den Sinn dieses Wissens, bleibt es oberflächlich und die Kinder erfahren keine entsprechende Hilfe. Auch muss man selbst bereit sein, sich auf den Weg zu machen, zu erkunden: „Wer bin ich, was möchte sich entwickeln?“. Dafür ist man nie zu alt. Gerade für Menschen, die Kinder begleiten, ist dies eine essenzielle Voraussetzung für Ihren Beruf – sollte es doch eine Berufung sein.
In den ersten drei Jahren macht ein Kind nicht nur äußerlich riesen Wachstumsschritte, sondern auch im Inneren geschieht sehr viel. Hier wird die Basis für eine spätere gesunde körperliche und seelische Entwicklung geschaffen. Es muss gerade in den ersten Lebensjahren die Voraussetzungen für die drei Seelenkräfte entwickeln: Denken, Fühlen und Wollen. Findet dies nicht in ausreichendem Maße Berücksichtigung oder wird es gar unterbunden, hat das weitreichende Folgen bis ins Erwachsenenalter hinein.
Die drei Seelenkräfte werden in jedem weiteren „Jahrsiebt“ auf eine höhere Stufe gehoben. Das Entwickeln unserer drei Seelenkräfte sollte im Ideal bis zum Lebensende andauern. In der heutigen Zeit besteht jedoch die Gefahr, dass wir durch das heute vorherrschende Schulsystem keine gute Basis schaffen und zusätzlich fehlt vielen Eltern das Wissen über diese innerseelischen Vorgänge.
Die daraus resultierenden Ergebnisse sind heute bereits deutlich sichtbar. Wir leben in einer Gesellschaft, die sich vom materiellen Konsum abhängig gemacht hat und in vielen Bereichen nur noch eine geringe Bereitschaft zeigt, Verantwortung zu übernehmen und sich eine eigene Meinung zu bilden. Eigenständiges und verantwortungsvolles Denken ist aufwendig und mühsam. Häufig werden einfach nur gehörte Informationen unreflektiert aufgenommen und weitergegeben, wodurch der Oberflächlichkeit Tür und Tor geöffnet wird. Die äußere Welt erscheint uns als angenehm, bequem und perfekt, aber die Seele vertrocknet, wenn man sich nur dem puren Genuss hingibt und die Seelenkräfte nicht weiter aktiv fördert. Es braucht ein ausgewogenes Verhältnis zwischen freudvollem Leben und einer inneren Weiterentwicklung. Bleibt es einseitig, dann fällt man aus dem Gleichgewicht und das sieht man heute im Großen wie im Kleinen, beim Einzelnen, in der Gesellschaft und in der Natur. Alles ist aus dem Gleichgewicht geraten und das Finden von sinnvollen Antworten wird immer schwerer. Was aber muss sich in den ersten Jahren des Kindes entwickeln, damit das Denken, Fühlen und Wollen in Balance ist?
Die Entwicklungsstufen werden in sogenannte Jahrsiebte eingeteilt, wobei diese nicht streng zu nehmen sind und in den späteren Jahrsiebten die Stufen auch nicht mehr so eindeutig zu trennen sind. Sie gehen mehr ineinander über. Im kindlichen Wachstum hingegen sind sie zeitlich exakter, was niemals heißt, dass ein Kind, das gewisse Dinge noch nicht entwickelt hat, krank oder zurückgeblieben ist. Es sagt nur, dass es eventuell noch etwas Zeit braucht, die inneren Entwicklungsschritte zu gehen. Bis zum 21. Lebensjahr gehen die inneren Entwicklungsschritte immer mit äußerlichen Veränderungen einher.
Die rein körperliche Entwicklung kann man anhand der Grafik von Stratz (siehe oben) sehr gut nachvollziehen.
Nimmt der Kopf zunächst 1/3 der körperlichen Größe ein, ist er später etwa noch 1/8 von der gesamten Gestalt. Innerhalb von 5 Monaten hat das Kind die Möglichkeit, sein Körpergewicht zu verdoppeln. Diese gewaltige körperliche Leistung vollbringt der Mensch innerhalb so kurzer Zeit nur einmal in seinem Leben. Die nächsten Perioden der Gewichtsverdopplung erfordern bereits viel mehr Zeit, nämlich bis zum zweiten Jahr, darauf wieder bis zum achten Jahr, danach bis zum 16. Lebensjahr.
Jedes Jahrsiebt kann so verstanden werden, dass die Vergangenheit aus der Vorphase in die ersten Jahre der nächsten Phase mit hinein wirkt und am Ende einer Phase bereits die Zukunft mit hineinkommt. Alles ist fließend und nie starr.
Das erste Jahrsiebt (0 – 7 Jahre)
In der ersten Phase, etwa bis zum
zweiten Lebensjahr, ist die wichtigste Bewusstseins-Funktion des Säuglings die Wahrnehmung. Das Kind gibt sich ganz der Umwelt hin, es ist wie ein ganzes Wahrnehmungsorgan, man könnte auch sagen, ein ganzes Sinnesorgan. Die gesamte psychische Aktivität ist darauf ausgerichtet, die Welt um sich herum kennenzulernen, bis hin zu den eigenen Händen und Füßen will es alles genau erkunden.
In dieser Phase ist das kleine Kind ein rein nachahmendes Wesen. Diese Nachahmung ist mehr oder weniger intensiv, dies hängt von den Verschiedenheiten des Charaktertypus und dem Temperament ab, wird also durch innere Faktoren mitbestimmt. In dieser ersten Entwicklungsperiode haben die Eltern eine große Verantwortung gegenüber dem Kinde. Das kleine Kind ist völlig offen für die Welt und lässt diese arglos und vertrauensvoll in die eigene erwachende Seele einströmen. Es tritt dieser hereinflutenden Welt mit aktivem Interesse entgegen. All das, was noch nicht bewusst aufgenommen werden kann und nicht verarbeitet wird, weil die erkennende Seele sich dem noch nicht gegenüberstellen kann, dringt in die tiefsten Schichten der Seele ein und erzeugt dort frühkindliche Prägungen. Später werden daraus bestimmte konstruktive oder destruktive Stimmungen, Gefühle oder Handlungsmuster. Ein Kind in dieser frühen Entwicklungsphase, das scheinbar noch nichts begreift, nimmt die Impulse seiner Umwelt am allerintensivsten auf. Erzieherisch hat man in den ersten Lebensjahren den größten und prägendsten Einfluss dadurch, wie man ist und wie man sich verhält. Völlig sinnlos ist es, dem Säugling gegenüber intellektuelle Äußerungen zu tätigen oder sich mit oberflächlichen Liebenswürdigkeiten und Aufmerksamkeiten zu zeigen.
Wer sich mit kleinen Kindern beschäftigt, sollte mit echtem Interesse, ganzem Herzen und warmen Empfindungen bemüht sein, in Ehrfurcht und sittlichem Willen diesen Menschenwesen auf ihrem Erdenweg zu helfen. Das Kind nimmt die Schwingungen, die zwischen Menschen herrschen, genauso auf wie die Töne und den Klang der Stimmen, nicht aber die Worte, denn die kann es noch nicht verstehen. Das aktive Interesse an seiner Umwelt wird beim Kleinkind noch von seinen Begierden getragen und nicht von dem bewussten Willen, wie es im späteren Alter möglich wird. Die Begierden sind aber der Vorläufer des Willens oder anders ausgedrückt, der Wille ist die durch das „ICH“ gerichtete Begierde.
Der Übergang vom Säugling zum Kleinkind
Mit dem Aufrichte-Prozess beginnt eine Übergangszeit vom Säugling zum Kleinkind. Die Säuglingszeit ist mit dem Gehen lernen abgeschlossen und jetzt kommen weitere innere Funktionen hinzu, nämlich das Sprechen und Denken. Durch den Aufrichte-Prozess kann bereits erkannt werden, wie sich das menschliche Wesen in die Welt hineinstellt – vorsichtig oder selbstbewusst und mutig erforschend.
Ab der Trotzphase, die etwa mit drei Jahren beginnt – mit dem Erstarken des eigenen ICHs – beginnt auch das Stadium der schöpferischen Phantasie. Die Basis für das Fühlen wird gelegt. Diese Phase ist durch die Freude am Entstehen geprägt. Essenziell ist für Kinder das Wiederholen eines schaffenden Vorgangs, in manchmal schier endlos scheinenden Rhythmen. Immer wieder und wieder soll das Gleiche wiederholt werden. Dies ist ein wesentliches Merkmal des Spiels. In dieser Phase lernt das Kind rhythmisch, was abstrakt noch nicht zu begreifen ist. Das ist das Geheimnis der Kinderreime aus „Großmutters Zeiten“. Immerfort kann das Kind die gleiche Geschichte anhören. Eine Erzählung wird umso schöner, je öfter sie erzählt und gehört wird.
Solange das Spiel rhythmisch verläuft, ermüdet es nicht, denn es verbindet sich mit den rhythmischen Prozessen des Menschen, die, wie Atemholen und Herzschlag, auch niemals ermüden können. Dagegen lassen Unrhythmisches und Intellektuelles im Spiel Kinder rasch ermüden. Dieses Spielen, um des Spielens willen, verändert sich erst im Laufe des sechsten Lebensjahres.
Die Entwicklung des Willens
Wille ist die Kraft, die die Begierde zu steuern weiß. Unter Begierde wird der unbewusste Wille verstanden. Ein entscheidendes Merkmal ist, dass das Kind beginnt, nicht mehr nur im Strom der schöpferischen Phantasiekräfte zu spielen, sondern es setzt sich jetzt selbst ein Ziel, welches erreicht werden möchte. Jetzt muss der Tunnel im Berg so beschaffen sein, dass ein Auto durchfahren kann und das Geschrei ist groß, wenn jüngere Geschwister, aus reiner Lust am Spielen, den Berg mit einem Hopser zerstören.
Vor dieser Phase hat das Kind lustvoll den Berg aufgebaut, jetzt wollte es aber am nächsten Tag weiterbauen. War bisher das Handeln von Begierden und Trieben geprägt, wird es jetzt vom produktiven Strom der Spielphantasie angetrieben. Das Handeln bekommt Merkmale eines gezielten Willens. Wichtig ist es, in dieser Phase Anregungen zum Spielen und Bauen zu geben, aber nichts vorzubauen, sondern es selbst machen und entwickeln lassen. Wenn es Unterstützung benötigt, holt es von sich aus die notwendige Hilfe. Durch möglichst viel kreatives Material – keine fertigen Produkte – kann diese Phase aktiv unterstützt werden. Erst wenn ein erstes zielgerichtetes Spielen zu erkennen ist und der Zahnwechsel begonnen hat, ist das Kind reif für die Schule.
Das zweite Jahrsiebt – Das Kind zwischen Zahnwechsel und Pubertät (7 – 14 Jahre)
Leicht kann man zu dem Schluss kommen, dass die vorhergehende Phase abgeschlossen ist und jetzt mit der Schulreife das abstrakte Denken einsetzt. Das ist nicht so und das ist auch der fatale Fehler unseres heutigen Schulsystems.
Nach wie vor befindet sich das Kind in der schöpferischen und rhythmischen Phase und auch die Willensäußerungen sind noch eng mit den vitalen Sphären des kindlichen Wesens verbunden. Das bedeutet, dass die Schule dort ansetzen muss. Die Kinder müssen behutsam von der einen Phase in die nächste begleitet werden. Der Unterricht sollte auf die schöpferische und rhythmische Phase eingehen, damit sich das Fühlen des Kindes gut entwickeln kann.
Es kann jetzt beobachtet werden, dass sich das Kind auch äußerlich verändert. Es verändert sich der Körper und der Rumpf, ebenso wie das Gesicht. Die Formveränderung bedingt sich durch das kräftige Wachsen des Unterkiefers, was immer parallel mit dem Wachstumsrhythmus der Beine einhergeht. Meist verändert sich der gesamte Gesichtsausdruck mit Vollendung des 7. Lebensjahres.
Dieser Ausdruck ist Spiegelbild einer wichtigen Metamorphose im Innenleben des Kindes. Sie spielt sich nach dem siebten Lebensjahr im Denken ab. Die eigene Innenwelt ist zu einem abgeschlossenen, abgerundeten Bereich geworden, in dem sich das Kind „daheim“ zu fühlen beginnt.
Das Denken beschränkt sich nicht mehr nur auf ein begehrendes Ergreifen und Assoziieren der Wahrnehmungs-Welt. Das Kind kommt von der Wahrnehmung zum Gedanken-Bild. Das Leben in Gedankenbildern ist vor allem in den ersten Jahren dieser Phase sehr ausgeprägt. Die Gedankenbilder fügen sich zu einer geschlossenen Welt zusammen, die erst in der Pubertät erneut erschüttert werden. Die innere Aktivität entfaltet sich im Aufbauen von Bildern und Vorstellungen. Die Bilder sind noch wenig umrissen. Sie sind beweglich, verwandeln sich und handeln wie Personen in einer Theateraufführung. Wir können es in etwa mit den Tagträumen von Erwachsenen vergleichen.
In der zweiten Lebensphase dieses Jahrsiebts steht das Kind mehr dem Wort seiner Umgebung offen gegenüber. Es möchte jetzt die Welt erklärt bekommen. Es fühlt sich Menschen nahe, die kreativ Gedankenbilder in Worte malen können. Auch jetzt ist das Intellektualisieren noch verfrüht. Die Welt muss in Bildern erklärt werden.
Hier sei auch auf den Zusammenhang zwischen dem Sprechen und dem Denken hingewiesen. Muss dem Sprechen immer erst ein Gedanke vorausgehen. Dies wird in dieser Phase erlernt. Aber nicht das abstrakte Denken, sondern das phantasievolle, lebendige und handelnde Denken. Märchen und Fabeln bieten hier den richtigen Nährboden.
Ein zu frühes Austrocknen der schöpferischen Kräfte wird nach Bernhard Lievegoed innerhalb der gesamten weiteren Persönlichkeitsentwicklung des Kindes nahezu nicht mehr auszugleichende Folgeschäden haben.
Auch geht es in der zweiten Phase dieses Jahrsiebtes in die Metamorphose des Fühlens.
Das Fühlen wird jetzt objektiviert. Das Kind erlebt seine Einsamkeit. Es fühlt halbbewusst das Abgeschnittensein von Kosmos und ein Gefangensein in einer durch die Körperlichkeit begrenzten „düsteren“ Welt. Plötzlich wird das Kind im Dunkeln ängstlich. Es fürchtet, dass ein Mann unter dem Bett liege und es verkriecht sich unter seine Bettdecke.
Die Tür zum Flur muss nun offen bleiben, damit es die Eltern hören kann. Immer wieder versucht es sich von der Angst, die die Welt in ihm erweckt durch allerlei magische Beschwörungen und wiederholenden Ritualen zu befreien. Jeder kennt wohl aus eigener Erinnerung diese Lebensphase, die bis in die Pubertät hinein andauern kann.
Das Kind ist kritisch gegenüber der Umwelt geworden, es erlebt sich selbst der Außenwelt gegenüberstehend. Die Welt ist nicht mehr so schön, fügsam und weise, wie sie in der Phantasie erschaffen wurde. Mit einem gewissen Schrecken steht das Kind vor der Polarität: ICH und die WELT.
Die vorangegangene Metamorphose des Denkens hatte diese Kluft noch nicht zum Erliegen gebracht, da das Gefühlsleben noch in der schützenden Umhüllung der kindlichen Phantasie geborgen lag. Jetzt aber ist dieser Mantel zerrissen und die Gegensätzlichkeit Ich-Welt oder auch Innen-Außen wird zur Lebenswirklichkeit. Der Gegensatz wird Lebensrealität im Gefühl, noch nicht jedoch im Willen, denn das geschieht erst ab etwa dem 11. Lebensjahr. Wie diese Phase aktiv durch das Lernen unterstützt werden kann, können Sie in einem Essay von Anna Maria Hespelt nachlesen, den wir Ihnen verlinkt haben.
Die Metamorphose der Willens-Beziehung zur Welt. Das Kind zwischen 12 und 14 Jahren – die Präpubertät
Mit der Schulreife begann das Kind sich mit der Welt zu beschäftigen. Setzte sich ein konkretes Ziel, das es zu verwirklichen galt. Jetzt wird die Aktivität darauf gerichtet, die Außenwelt zu erobern. Dieser Prozess beginnt in der Präpubertät und wird in den eigentlichen Pubertätsjahren vollendet. Das Erleben des Willens-Impulses und der eigenen Kraft wird das Maß. Frühestens mit dem 12. Lebensjahr sollte mit dem abstrakten Denken begonnen werden, denn jetzt ist die innere Reife dafür vorhanden.
Das dritte Jahrsiebt
Die Suche nach der eigenen Identität (14 – 21 Jahre)
In vielen Familien ist dies eine gefürchtete Zeit, jetzt kommt es beim Jugendlichen zur Entwicklung der eigenen Empfindungen und des eigenen Charakters. Alles, was bisher vorgelebt wurde, wird in Frage gestellt. Der Jugendliche schwankt zwischen den Polen von Antipathie und Sympathie hin und her. Körperlich entwickeln sich die Sexualorgane, die Jungen kommen in den Stimmbruch, alles ist im Umbruch und somit mit großer innerer Unsicherheit verbunden.
Einsamkeit, die eigene Identität finden, ist das Leitmotiv der Pubertät. Diese Phase ist auch die Periode der Synthese für die drei Seelenkräfte. Das Suchen danach beherrscht das Streben der letzten sieben Jahre vor dem Erwachsensein. Schließlich wird die Synthese von Mensch und Welt nur dort gefunden, wo die Andersartigkeit erfahren wird. Je heftiger die Andersartigkeit unterdrückt wird, desto heftiger fällt die Gegenbewegung der Jugendlichen aus. Ab dem 14. Jahr beginnt die eigene Meinungsbildung, die aber noch geprägt ist von den Gedanken und dem erlernten Wissen und Meinungen der Erzieher, Ausbilder und Vorbilder der Jugendlichen. Es ist noch kein eigenständiges und unabhängiges Denken. Das beginnt erst im letzten Drittel des folgenden Jahrsiebtes zwischen 21 und 28 Jahren. Die Pubertät ist diejenige Phase, worin das Suchen nach einer neuen Rolle innerhalb einer viel umfangreicheren Welt beginnt. Wo stehe ich? Welches ist meine Stellung in der Welt? Es ist das Suchen nach der eigenen Identität.
Bei manchen Jugendlichen – vor allem bei Jungs – kann man erkennen, dass sie in dieser Phase Halt bei älteren Freunden suchen, die ihnen in der Einsamkeit und Orientierungslosigkeit die Hand reichen, um sie aus dem Irrgarten der verwirrenden Gefühle herauszuführen. Der männliche Jugendliche sucht nach einem Weltbild und will alles mögliche Technische erforschen und erkunden. So wie sie sich in die Technik hinein vertiefen und selbstständig stehen, so unbeholfen sind sie in dieser Phase im Umgang mit gleichaltrigen Mädchen. Bei den Mädchen findet eine schnellere körperliche Entwicklung statt. So findet der physiologische Reifungsprozess, bereits zwischen dem 12. und 14. Lebensjahr statt. Die seelische Entwicklung folgt dem dann etwas später nach.
Jungen richten ihr Augenmerk auf die Welt im Außen, Mädchen wollen eher die inneren Vorgänge erfassen. Die menschlichen Beziehungen, die Regungen der Seele finden ihr glühendes Interesse. Sie durchschauen, durchleben und durchleiden alles, was an Menschlichem um sie herum geschieht.
Rudolf Steiner hat in seinen pädagogischen Vorträgen vorgeschlagen, das Wort „Geschlechtsreife“ zu ersetzen durch „Erdenreife“. Das ist tatsächlich das richtige Wort. Das Kind erwacht in diesem Alter nicht allein für die Realität des anderen Geschlechtes, sondern für die Realität der gesamten Erde, wobei die Trennung der Geschlechter nur ein bescheidenes Teilgebiet bildet.
Bei der Pflanze ist die Entwicklung der drei Metamorphosen im Jahreslauf abgeschlossen. Im nächsten Jahr fängt die Entwicklung wieder von vorne an. Beim Menschen beginnt das eigentliche Leben erst, nachdem die Entwicklung durch die drei Phasen vom 0. bis zum 21. Lebensjahr zum Abschluss gekommen ist. Der Mensch trägt als Erwachsener die drei ersten Metamorphosen der Seelenkräfte in sich. Auch wenn er glaubt, allein auf der letzten Metamorphose weiterzubauen, bleiben doch auch die früheren Stufen weiter bestehen.
Als tiefste unbewusste Schicht bleibt beim Erwachsenen die Periode der ersten sieben Jahre bestehen, diejenige der physiologischen Entwicklung, in welcher der Mensch noch ganz mit den Lebensprozessen und der Umwelt verbunden war. Erfahrungen und Erlebnisse dieser Periode leben wie im tiefen, traumlosen Schlaf weiter.
Als zweite halb bewusste Schicht bleibt die Periode der zweiten sieben Jahre der psychischen Entwicklung bestehen. Erfahrungen und Lebenshaltung dieser Periode leben als halb bewusster Wachzustand weiter.
Als dritte voll bewusste Schicht bleibt die Periode der dritten sieben Jahre bestehen. Diejenige der sozialen Entwicklung. Auf Erfahrung und Lebenshaltung, die in dieser Periode erworben wurden, baut der Erwachsene weiter, und er meint, dass die vorangehenden Entwicklungsstufen verschwunden seien. Durch Krankheiten und Krisen sowie durch bewusstes Üben der Erinnerung in Form einer Biografiearbeit andererseits, können die älteren Entwicklungsstadien wieder zum Vorschein kommen.
Vielleicht erkennt jetzt der eine oder andere Leser, dass Elternsein eine echte Lebensaufgabe ist, das Wesen des anvertrauten Kindes bestmöglich bei seiner Entwicklung zu begleiten. (tl)
Wenn du mich wahrnimmst
Wenn du mich nicht wahrnimmst,
meinem Wesen keine Aufmerksamkeit schenkst,
du mich mit den Augen anschaust,
während dein Herz verschlossen ist,
kannst du mich nicht sehen.
Und wenn ich nicht gesehen werde,
fühle ich mich nicht geliebt von dir.
Und wenn ich nicht geliebt werde,
fühle ich mich ohne Bedeutung,
wertlos und ohne Sinn.
Wenn ich ohne Sinn bin,
existiert nur ein Schatten von mir.
Und ich bin unvollständig
hier auf der Erde.
Aber ich bin doch und warte,
poche an deine Tür,
will von dir gesehen,
von dir ins Leben gerufen werden.
Ich brauche deine Aufmerksamkeit
wie die Luft zum Atmen.
Sieh mich an,
sieh,
wer ICH wirklich BIN.
Ich bin nicht das Verhalten,
an dem du dich störst,
ich bin nicht mein Aussehen,
das du verändern möchtest,
ich bin nicht meine Worte,
die ich von dir gelernt habe,
ich bin nicht meine Unruhe,
die du in mein Herz gelegt hast.
Ich bin ein reines göttliches Wesen,
gekommen mit einem Auftrag
hier auf diese Erde.
Hilf mir,
ihn ins Leben zu tragen,
indem du mich anschaust und mich siehst,
mir Aufmerksamkeit schenkst und Achtsamkeit,
dass dein Blick nicht hängen bleibt an der Hülle,
die mich ins Leben getragen,
und die du gerade versuchst
nach deinen Vorstellungen zu formen.
Hilf mir,
dass ich diesen Körper durchdringe
mit meinen ureigenen Impulsen,
meinen Ideen und Antrieben,
mit meinen Sehnsüchten
und Botschaften für dieses Leben,
für dich – und für die Welt!
– Gabriele Waldow
Quellen:
Bernhard Lievegoed Die Entwicklungsphasen des Kindes, J. Ch. Mellinger Verlag GmbH, Stuttgart, 12. Auflage
Gabriele Waldow, Elternsache ist Bewusstseinssache, Waldow Verlag
Rudolf Steiner GA 293 Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik.
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