Waldorfpädagogik
Der Unterschied
Es war vor fünfundvierzig Jahren. Wir waren uns einen Sommer lang nah, sprachen über Gott, Delfine und die Entwicklung des Menschen. Kommt da noch was? Dann ging sie für ein Jahr in die USA. Danach wiederholte sie die elfte Klasse und wir verloren uns aus den Augen.
Jetzt sitzen wir beim Italiener und versuchen den, den wir einmal gekannt haben, wieder zu entdecken. Sie hebt verwundert die Augenbrauen und ich kann nicht genau beurteilen, was sie mir damit mitteilen will: Anerkennung oder Enttäuschung?
“Waldorflehrer? Echt jetzt?”
“Ja.”
“Wieso das?”
“Warum nicht?”
“Weil … also, ich kann das ja nicht wirklich beurteilen. Ich weiß zu wenig darüber, was Waldorfschule ist. Aber man liest halt immer wieder seltsame Sachen. Und irgendwie wirkt das Ganze aus der Zeit gefallen. Gestrig oder ewig gestrig.”
“Ja. Ich weiß, was du meinst.”
Unsicheres Schweigen. Soll ich jetzt einen Vortrag über Waldorfpädagogik halten? Das war eigentlich nicht, was ich heute Abend wollte.
“Erzähl doch mal.”
“Wie jetzt?”
“Erklär mir, was Waldorfpädagogik ist. Warum machst du etwas, das sich jemand vor mehr als hundert Jahren ausgedacht hat?”
“Okay. Das ist übrigens schon das erste Missverständnis. Rudolf Steiner, den meinst du ja mit jemand, hat sich das nicht ausgedacht, so wie man sich eine phantasievolle Geschichte ausdenkt. Er hat geforscht. Er hat sich genau angeschaut, wie der Mensch sich entwickelt, welche Gesetzmäßigkeiten da zu beobachten sind. Und dann hat er gesagt, dass die Pädagogik dieses Wissen – das hat er Menschenkunde genannt – als Grundlage nehmen soll. Nur so, nur wenn der Lehrer weiß, nach welchen Gesetzmäßigkeiten jeder Mensch sich in seinem Leben entwickelt, warum das so ist und was das Ziel dieser Entwicklung ist, nur dann kann er gut unterrichten.”
“Klingt logisch.”
“Hast du Kinder?”
“Einen Sohn. Bei dem würde ich manchmal auch gerne wissen, was das Ziel seiner Entwicklung ist.”
“Erinnerst du dich an seine Einschulung?”
“Ja, klar. Ganz stolz war er. Auf dem Foto grinst er mit seinen Zahnlücken von einem Ohr zum anderen. Jeden Tag hat er mir ein Ohr abgequasselt, was er heute wieder gelernt hat. Unglaublich, was der sich alles hat merken können.”
“Genau. Gerade hast du, ohne es zu wissen, eine der Gesetzmäßigkeiten der Menschenkunde genannt. Es gibt nämlich einen Zusammenhang zwischen den Zahnlücken auf dem Foto und der Merkfähigkeit, die dich so überrascht und wahrscheinlich auch ein bisschen genervt hat.”
“Wie das?”
“Als dein Sohn geboren wurde, warst du vielleicht etwas enttäuscht, dass er so viel schläft. Zwei bis drei Stunden ist er am Tag maximal wach gewesen. Den Rest hat er verschlafen.”
“Stimmt. Jetzt war er endlich da und dann schläft er nur.”
“Ein Baby ist ganz Wahrnehmung, wenn es wach ist. Ungefiltert rauscht die Welt in das kleine Kind hinein. Das muss verarbeitet werden. Die Informationen, die über die Sinnesorgane hineinkommen, müssen verarbeitet werden. Erst langsam bildet sich durch das Ordnen der Informationen die Welt ab. Hauptaufgabe ist aber für den kleinen Menschen, den Körper wachsen zu lassen und ihn auszubilden. Dafür benötigt er viel Energie. Diese Energie kommt aus einem Bereich, den Steiner ätherisch nennt. Er spricht von einem Ätherleib. Wäre diese Energie nicht da, wäre der Körper leblos.”
“So was wie Lebensenergie.”
“Ja. Das geht sieben Jahre. Dann wächst der Körper nicht mehr so schnell, beziehungsweise anders. Die Milchzähne fallen aus und die eigenen stoßen durch. Energie wird frei und kann für andere Aufgaben benutzt werden.”
“Um sich Sachen zu merken.”
“Genau. Jetzt ist das Kind reif für die Schule. Es will jetzt die Schönheit der Welt entdecken, will das Schreiben, das Lesen, das Rechnen lernen. Damit kann es dann die Welt erobern. Jetzt tritt der Lehrer, die Lehrerin in sein Leben. Der beziehungsweise die muss genau hinschauen.
Wo steht das Kind? Was kann es schon? Was kann es noch nicht? Im Rechnen zum Beispiel ist es wichtig, dass der Übergang zum Zehnerbereich der Zahlen richtig vollzogen wird.
Das ist eine Hürde im Denken, im Begreifen. Für uns ist das ganz normal, aber nicht für das Kind. Das Kind macht das zum ersten Mal. Hilfreich ist hier Lernmaterial, damit das Kind mit den Händen greifen – begreifen – kann, was da passiert, wie man von der Neun über die Zehn zur Elf kommt. Das kann man dann mit einem Säckchen machen, in das genau zehn Kugeln passen.”
“Deshalb lernen die Kinder an der Waldorfschule die Buchstaben mit Hilfe von Bildern.”
“Genau. Das G entsteht dann aus einer Gans.”
“Das ist ja ganz nett. Aber du kannst ja nicht alles so gefühlvoll beibringen. Irgendwann müssen die Kinder einfach das Wissen lernen, pauken.”
“Alles zu seiner Zeit. Wichtig ist, dass das Kind die Dinge, die es lernt, mit einer Empfindung, einem Gefühl verbindet. Das geht gut, wenn
du über das Tun lernst. Handlungsorientierte Pädagogik nennt man so was. Nur so erhältst du beim Kind die Lust am Entdecken der Welt, die Freude am Lernen. Wenn ich in der neunten Klasse Goethe und Schiller als Thema im Deutschunterricht habe, behandle ich das Thema Ideale. Ich baue dann auf das, was die Schüler in der zweiten Klasse als Thema hatten: Heiligenlegenden wie zum Beispiel die Geschichte von Franz von Assisi. Die Schüler, die damals die unglaubliche Geschichte des heiligen Franz nachempfunden haben, können dann als Jugendliche ganz anders über Ideale wie Nächstenliebe oder Demut sprechen. Das Herz ist dabei.”
“Das bildet dann auch die Sozialkompetenzen aus. Dafür ist die Waldorfschule ja bekannt.”
“Im zweiten Jahrsiebt – die Entwicklung des Menschen lässt sich gut in Abschnitte von jeweils sieben Jahren einteilen – also im Abschnitt zwischen dem siebten und vierzehnten Jahr, lernt das Kind sich in ein neues, eigenes Verhältnis zur Welt zu setzen. Mit ungefähr neun Jahren, merkt es, dass es sich von den anderen Kindern unterscheidet. Es wird manchmal schwierig, die anderen zu verstehen. Warum machen die das?”
“Es wird gemobbt.”
“Auch das. Wenn sie dann in die Pubertät kommen, bildet sich immer stärker das persönliche Gefühlsleben aus. Die erste Liebe wird empfunden. Die Gefühlserlebnisse müssen groß und heftig sein. Selbstzweifel, graue Gefühle, Orientierungslosigkeit – all das stürzt auf den jungen Menschen ein, macht ihn unberechenbar, verletzend, wütend. Jetzt setzt die Pädagogik die Erziehung zum selbständigen Urteilen ein. Der erwachsene Mensch soll diese Gefühlswelt kontrollieren, beherrschen, ohne sie zu verlieren. Die Gefühle sind wichtig, denn nur so können wir zum Beispiel den anderen verstehen, uns in ihn hineinversetzen, empathisch werden. Nur so entsteht eine sozial verantwortliche Gesellschaft.”
“Du sprachst vom selbständigen Urteilen. Ist das denn überhaupt möglich? Wir werden doch überall manipuliert. Jeder schaut, dass er das Beste für sich herausholt und manipuliert alles und jeden, damit er an sein Ziel kommt.”
“Siehst du: Deshalb bin ich Waldorflehrer geworden. Ja, so denken und handeln viele. Aber nicht alle. Es würde uns doch wohl allen besser gehen, wenn mehr Menschen nicht so egoistisch durch die Welt laufen würden, oder?”
“Sicherlich. Vor allem würde nicht so viel kaputt gehen, weil man zum Beispiel mehr auf die Natur achtet. Nicht weil man mehr davon hat, sondern weil es einem das Herz sagt, dass das richtig ist.”
“Genau. Darum geht es.”
“Aber wie kommt man jetzt zu einem Menschen, der gelernt hat, selbständig zu urteilen?”
“Es beginnt in der neunten Klasse. Hier geht es um das praktische Urteil. Der Schüler soll sehen, dass er im Werken nicht drei Zentimeter, sondern drei Millimeter abhobeln muss.
Er soll lernen, die Wirklichkeit richtig ein- und abzuschätzen. Wie gesagt, nehme ich in der neunten Klasse die Ideale der Klassik durch. Hier gilt es, so etwas wie Freiheit oder Gerechtigkeit auf den Prüfstand zu stellen. Wo endet meine Freiheit? Ist es gerecht, wenn alle gleichbehandelt werden? So zieht sich das Erlernen des praktischen Urteils durch alle Unterrichte. In der zehnten Klasse kommt das theoretische Urteil dazu. Es gibt Bereiche der Erkenntnis, die müssen theoretisch erschlossen werden. So können wir zum Beispiel nicht in die Steinzeit hineinschauen und erleben, was der Neandertaler gemacht hat, als er auf den modernen Menschen gestoßen ist. Aber wir können Schlüsse ziehen aus den Funden, die wir aus dieser Zeit haben. Deshalb wissen wir zum Beispiel, dass der Neandertaler erfolgreich Operationen am Gehirn durchgeführt hat. In der elften Klasse tritt der junge Mensch eine Reise in sein Inneres an. Er erschließt sich sein emotionales Innenleben. Er kommt zu einem inneren Gefühlsurteil. Im Deutschunterricht lese ich mit den Schülern die Geschichte des Parzival, der eine große Reise machen musste, bis er zur inneren Reife kommen konnte und Herr über die Gralsburg werden durfte. In der abschließenden zwölften Klasse steht der Schüler gleichsam auf einem Berg und schaut sich all das an, was er gelernt und erfahren hat. Er überblickt die Welt, in die er hineingeboren wurde und ist nun in der Lage ein selbständiges Überblicksurteil zu bilden. Er ist am Ende seiner Schulzeit angekommen. Seine Persönlichkeit, sein Ich wird sichtbar. Jetzt geht er hinaus in die Welt, ausgestattet mit Urteilsfähigkeit und dem Wissen, dass das Lernen und Entwickeln nie enden werden.”
“Und das funktioniert? Das ist so schön formuliert von dir und klingt sehr idealistisch. Aber wie sieht denn die Realität aus?”
“Sprich mit Menschen, die auf einer Waldorfschule waren. Du wirst sehen, dass diese Pädagogik fruchtet. Wenn ich unsere Schüler im Berufspraktikum besuche und mit ihrem Chef oder ihrem Meister spreche, bekomme ich immer wieder das gleiche zuhören. Man wundert sich, dass der junge Mann, die junge Frau nicht alles, was vom Vorgesetzten kommt, widerspruchslos hinnimmt. Widerworte ist man bei diesem Alter nicht gewohnt. Dann kommt ein aber:
Aber sie können argumentieren. Sie denken mit. Sie versuchen Probleme selbständig zu lösen. Eigentlich will man solche Mitarbeiter haben. Und dann kommt der Satz, den ich am häufigsten bei solchen Besuchen höre: Also von mir aus, kann er/sie gleich nächste Woche bei mir mit der Lehre anfangen.”
“Das ist der Prüfstein.”
“Das Ideal ist wichtig. Es dient der Orientierung. Aber man muss es vom Himmel runter auf die Erde holen. Das lernen meine Schüler.”
Es war noch ein schöner, ein langer Abend. Wir stellten fest, was uns beide über all die Jahre verbunden hat. Auch wenn wir unterschiedliche Wege gegangen sind, ging es uns immer darum, uns und dadurch ein Stück weit auch die Welt zu entwickeln.
Jan-Christoph von Deschwanden (Waldorflehrer für Deutsch und Geschichte, Oberstufenleitung Rudolf Steiner Schule Aargau)