„Erkennt, dass ihr Euer Leben selbst bestimmen könnt“
Freie Schulen erleben einen großen Zustrom. So wie die Freie Schule Rheinklang in Radolfzell am Bodensee. Dort lernen derzeit 60 Schüler in einem ungewöhnlichen Schulkonzept unter anderem im Fach „Glück“, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Gesamtleiterin Lydia Petrovsky gewährte uns einen Einblick in den sympathischen Schul-Kosmos und beantwortete unsere Fragen. (ae)
F: Liebe Lydia, du bist ehrenamtlich im Vorstand und in der Gesamtleitung tätig. Das erfordert ein hohes Maß an Einsatz und Idealismus. Was war deine Motivation, hier einzusteigen?
A: Meine Intention war es, einen Ort mitzugestalten, eine Alternative zum staatlichen Schulsystem, wo Kinder glückvoller und freier lernen können. Ich begann hier als Mutter zweier Söhne, für die ich diese Schule wollte. Ich habe vorher im hohen Management gearbeitet und somit Erfahrung im Bereich Leitung. Aufgrund eines inneren Wandlungsprozesses und Umdenkens wollte ich ohnehin weg von der Karriere. Dabei war ich auf der Suche nach etwas Sinnhaftem und sah hier meine neue Aufgabev. Ich bringe wöchentlich etwa 25 bis 30 Stunden ehrenamtlich ein, das hier ist einfach meine Passion. Was ich hier erlebe, kann man mit Geld nicht kompensieren. Kinder zu sehen, die gebrochen zu uns gekommen sind und hier aufblühten; die sich anfangs nichts trauten und dann nach einiger Zeit vor vielen Menschen etwas vortragen. Ja, wir sind ein Ort der Metamorphose. Das ist hier möglich, auch aufgrund der Kleinheit, wo man diese Prozesse unmittelbar begleiten kann.
F: Welche Hürden muss eine Schule mit freiem Konzept überwinden, um starten zu dürfen?
A: Nun, da gibt es viele. Das Finanzielle ist am Schwierigsten. Verrückterweise muss man nämlich ausgerechnet am Anfang, während der ersten drei Jahre, ohne staatliche Förderung klarkommen. Dann ist man voll auf die Elterngelder und teilweise freiwilliges Engagement bei den Lehrern und Mitunterstützern angewiesen.
F: Diese ersten drei Jahre habt ihr offenbar gemeistert. Ging es danach einfacher weiter?
A: Die Geschichte der Schule war aus verschiedensten Gründen wechselvoll, doch mittlerweile sind es 60 Kinder und die Tendenz zeigt steil nach oben. Wir könnten schon längst hundert Kinder haben, es mangelt schlicht an räumlichen Kapazitäten. Die Nachfrage ist so immens hoch. Wir bekommen fast jeden Tag eine Anfrage.
F: Habt ihr ein pädagogisches Konzept, das anderen Schulen gleicht?
A: Wir sind genehmigt als freie Waldorfschule, sind aber nicht im Verbund und dürfen uns daher nicht so nennen. Wir legen aber ohnehin mehr Wert auf ein multipädagogisches Konzept, es geht ja schließlich um die individuelle Betrachtung der Kinder. Nur Waldorf halte ich für zu begrenzt. Für uns ist es wichtig, offen zu sein.
F: Was sind das für Lehrer an der Rheinklang Schule? Nach welchen Kriterien werden sie ausgesucht?
A: Zeugnisse sind mir nicht so wichtig beim Vorstellungsgespräch. Ich brauche hier Leute, die in der Lage sind, hinter die Fassade der Kinder zu schauen; die aus Leidenschaft Lehrer sein wollen. Logischerweise muss es fachlich fundiert sein, aber ob sie einen Bezug zu Kindern haben, steht nicht immer im Zeugnis. So arbeiten hier auch rundweg Leute, die ihre Aufgabe aus reiner Überzeugung erfüllen. Die Lehrer sehen und respektieren die Kinder genau so, wie sie sind. In gegenseitigem Respekt. Übrigens sind unsere Schüler bei der Einstellung eines Lehrers beteiligt. Nach dem Probearbeiten eines Bewerbers fragen wir die Kinder immer nach ihrer Meinung. Sie sind auch an diversen anderen Entscheidungen beteiligt.
F: Was ist der wesentliche Unterschied zur Staatsschule?
A: Besonders zentral hier ist das familiäre Miteinander. Wir sind untereinander sehr verbunden, sehr vertraut. Unter normalen Bedingungen beginnen wir hier morgens alle zusammen mit einem großen Morgenkreis und beenden den Schultag mit einem Abschlusskreis, von der ersten Klasse bis zur Oberstufe. Wir leben davon, einander nahe zu sein. Aus dem Zusammensein ergeben sich so viele Lernfelder. Klar folgen wir dem Lehrplan im Wesentlichen, wir weichen aber durchaus auch mal davon ab und gehen zum Beispiel viel in die Natur, wenn wir sehen, dass die Kinder es gerade brauchen. Dazu gibt es Theaterkurse, Sport, Meditationstraumreisen oder Eurythmie.
Die Schule ist derzeit in einem kleinen Verwaltungsgebäude der Stadt untergebracht.
F: Für welche Schüler ist die Schule geeignet?
A: Diese Schule steht allen Kindern offen. Es kommen Schüler aus den verschiedensten Kontexten. Wir sind in unserer Gesellschaft ja ein buntes Spektrum von Menschen, Facetten und Lebensweisen. Hier sollen alle einen Platz finden. Eigentlich müsste jede Schule so sein. Das baut nämlich ein viel größeres Verständnis für andere bei den Kindern auf, wenn sie das Menschsein hier erleben. Allerdings lehnen wir zum Eigenschutz und aus Erfahrung gewaltbereite Kinder ab.
F: Welche Eigenschaften entwickeln Kinder, die auf eine Privatschule wie diese gehen?
A: Allgemein sind die Kinder, die von freien Schulen kommen, eher selbstbestimmter, kreativer, selbstbewusster. Sie durften die Erfahrung machen, dass man ihnen auf Augenhöhe begegnet, sie immer ernst nimmt.
F: In eurem Lehrplan steht das Fach „Glück“. Was genau wird da unterrichtet?
A: Die Kinder sollen erkennen, was es alles an Möglichkeiten und wildem Potenzial gibt, ihr Eigenes zu finden. Dass ein junger Mensch durchaus in der Lage ist, sein Leben selbst zu bestimmen. Wir helfen ihm zu erkennen, was er eigentlich will, wofür er überhaupt hier ist. Dass er ein eigenes Individuum ist, ohne Abhängigkeit von den Eltern. Das Ganze soll immer infrage gestellt werden. Gerade heute. Die Kinder sollen sehen, dass sie die Möglichkeit haben, mit ihrer Einstellung, ihren Gedanken, das Leben zu gestalten. Das ist im Wesentlichen der Inhalt des Fachs Glück
F: Wie läuft so eine „Glücks“-Lektion ab?
A: Meistens machen wir Bewegungsspiele im theoretischen Kontext. So können die Kinder das, was man erkennt, in der Bewegung zu festigen. Es fließen Elemente der Eurythmie oder Kinesiologie ein. Das macht derzeit eine Glücks-Lehrerin, die eine spezielle Ausbildung am Fritz-Schubert-Institut in Heidelberg absolvierte, wo Menschen ausgebildet werden, Werte wie Wertschätzung zu vermitteln oder Kindern zu helfen, Selbstwertgefühl aufzubauen. Meine Intention ist ja, dass alle Lehrer diese Ausbildung bekommen.
F: Als genehmigte Privatschule bezieht ihr staatliche Zuschüsse. Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit den Behörden?
A: Wir arbeiten sehr transparent, offen und eng mit ihnen zusammen. Man vertraut sich gegenseitig – nicht nur das Schulamt, sondern auch das Regierungspräsidium, das bei uns hospitiert, wenn neue Lehrer anfangen. Das führt dazu, dass alle Beteiligten regelmäßig sehen, was wir hier leisten. Die Rückmeldungen sind durchweg positiv.
F: Wie sieht das Finanzierungsmodell eurer Schule aus?
A: Wir finanzieren uns durch staatliche Zuschüsse und fixe Elternbeiträge, wobei wir keine Kinder ablehnen, deren Familien das Schulgeld nicht bezahlen können. Diese Eltern erbringen als Ausgleich dann mehr Arbeitsleistungen für die Schule.
F: Welche Abschlüsse sind bei euch möglich?
A: Die Kinder können bei uns den Haupt- oder Realschulabschluss per Schulfremdenprüfung machen. Das bedeutet, dass wir die Kinder intensiv auf die jeweilige Prüfung vorbereiten, nur die Prüfung selbst muss an einer staatlichen Schule abgelegt werden. Unsere Absolventen machen alle ihren Weg, entweder auf einer weiterführenden Schule oder sie beginnen eine Lehre. Sie sind dann kreative, selbstbestimmte Wesen.
F: Wie blickt ihr als Schule in die Zukunft?
A: Uns bewegen viele Themen. Der Stellenwert der Bildung in Deutschland muss sich dringend ändern. Wir persönlich brauchen ein neues Schulgebäude, zum Beispiel ein Haus zum Erweitern oder Renovieren. Am liebsten würden wir neu bauen, um die Ideen von organischem, nachhaltigem und lerngerechtem Bauen verwirklichen zu können, für ein Lernumfeld zum Wohlfühlen. In jedem Fall suchen wir Spender und Sponsoren. Wir sind aktuell noch in der Phase der Grundstückssuche und hoffen, dass die Politik uns hilft. Wir könnten so viel mehr Kinder fröhlich machen, wenn wir mehr Platz hätten.
Informationen rund um die Schule sowie die Spendenkontonummer finden Sie auf der Internetseite:
www.rheinklangschule.de
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