Das Wesen des Kindes entdecken
Was will entwickelt werden?
Kinder sind ein Wunder der Natur. Sie drücken sich gerade in der ersten Zeit auf ganz individuelle Weise aus. Diese Sprache zu erkunden ist das Wichtigste, was Eltern in der Begleitung ihrer Kinder lernen dürfen.
Ein Gastbeitrag von Erika Rau
Unsere Kinder sind, wenn sie geboren werden, erst einmal ganz neue göttliche Wesen, die wir kennen lernen dürfen. Sie bringen ihre persönliche Lebensaufgabe mit und verhalten sich schon von Beginn an ihren Anlagen entsprechend. Anfangs kennen wir nur schwer die Sprache, was bedeutet das Schreien des Babies – hat es Hunger, Schmerzen, muss es ein Bäuerchen machen, ist es ihm langweilig, möchte es unterhalten werden oder ist es müde oder hat es ganz einfach die Windel voll und das ist ihm unangenehm? Es kann auch sein, dass ihm kalt oder heiß ist. Dabei haben Babies eine ganz ausgeprägte Mimik und Gestik, die verrät, was ihnen fehlt. Die meisten Eltern haben eine intuitive Kompetenz, der sie vertrauen können – deshalb müssen sie sich auch nicht erst zum Babydolmetscher ausbilden lassen. Allerdings beobachten wir, dass dieses Gefühl für das Wesen des Kindes in unserer Zeit ein bisschen weniger geworden ist.
Viele Menschen sind wohl doch zu sehr von den Errungenschaften der modernen Lebensweise gesteuert oder abgelenkt und verlieren das Vertrauen in die eigenen Empfindungen. Letztlich verkümmert diese Kompetenz, wenn wir sie nicht anwenden oder durch die Anwendung schulen. Im Focusing nennt man das den „Felt sense“ – dieses innere Gefühl von Stimmigkeit für eine Situation. Und genau diesen „Felt sense“ brauchen wir im Zusammenleben mit Kindern – und eigentlich immer, wenn wir mit anderen zusammen sind.
Wir dürfen uns immer leiten lassen von dem inneren Gefühl, dass sich etwas richtig und stimmig anfühlt oder eben noch ein bisschen gesucht und ausprobiert werden muss, bis das innere Stimmigkeitsgefühl da ist.
Das Innere zeigt sich am Äußeren und das kann beobachtet werden. Wie ein Kind sich mit neuen Dingen beschäftigt, wie es krabbelt, gehen und sprechen lernt. All das zeigt sich bei jedem Kind ganz individuell – und daran zeigt sich, wie ein Mensch zunächst in der Welt steht.
Das Wesen erkennen
Die Psycho-Physiognomik – auch Face-Reading genannt – kann uns auf dem Weg unterstützen, wenn es darum geht, das Kind kennenzulernen, um es vom Babyalter bis zur Erwachsenenreife seinen Anlagen gemäß zu fördern.
Aber kann man denn Babies schon physiognomisch betrachten – ihr Körper entwickelt sich doch erst, das Gesicht ist auch noch weich und die Formen prägen sich erst aus? Das ist alles richtig, doch durchaus kann man schon bei Babies und Kleinkindern physiognomische Unterschiede erkennen und gewisse Dinge beobachten. Betrachten Sie doch einmal unterschiedliche Babies: Es gibt runde Gesichter, längliche Gesichter, ovale Gesichter, unterschiedliche Hautfärbung, die Gestik und Mimik sind bei jedem Kind unterschiedlich. Jedes Kind sieht nicht nur anders aus, es ist auch anders. So wie es aussieht – sich ausdrückt – sind auch seine Reaktionen im Inneren, das Interesse an der Welt, das Hineingehen in die Welt.
Das Innere zeigt sich am Äußeren und das kann beobachtet werden. Wie ein Kind sich mit neuen Dingen beschäftigt, wie es krabbelt, gehen und sprechen lernt, all das zeigt sich bei jedem Kind ganz individuell – und daran zeigt sich, wie ein Mensch zunächst in der Welt steht. Braucht es Anregungen oder hat es das sogenannte „Entdecker-Gen“ in sich? Es gibt also viel zu betrachten und kennenzulernen – und zu lernen: Jedes Kind ist einzigartig und unverwechselbar, ein Geschenk auf dieser Erde das etwas erfahren möchte. Genau darum geht es: Kinder sind Geschenke, die uns einige Zeit zum miteinander Lernen anvertraut sind, die aber ihre ganz eigene Lebensaufgabe haben. Und wir dürfen lernen, diese Lebensaufgabe zu erkennen und das Kind auf seinem Weg durch die Welt bestmöglich zu begleiten.
Die Kinder – unser Spiegelbild
Gerade Kinder sind Spiegel für die Eltern und ahmen das Verhalten der Eltern schon von frühester Kindheit an nach.
Kinder fordern uns meist ganz besonders und bringen unsere Schwachstellen ans Licht. Wir werden dadurch aufgefordert, an uns selbst zu arbeiten, uns weiterzuentwickeln und miteinander zu lernen.
Mit der Zeit lernen wir, das Kind in seinem Wesen immer mehr zu verstehen, ihm Raum zur Entfaltung zu bieten sowie auch Grenzen zu setzen. Dabei ist es immer wichtig, auch zu erkennen, wo die eigenen, persönlichen Grenzen sind. Wo bin ich als Elternteil authentisch in meinem Verhalten? Kinder spüren sehr wohl, wo unsere Achillesferse ist und stoßen genau dort hinein – unbewusst und ohne böse Absicht. Letztlich ist es wichtig zu wissen: Wer bin ich wirklich? Nur dann kann ich klar interagieren.
Die Psycho-Physiognomik kann uns helfen, zu erkennen, welches Kind mehr Raum und Verständnis braucht, welches Kind irgendwann mehr Klarheit und Grenzen fordert und welches Kind auf Blicke reagiert und nicht mit lauten Worten und derben Gesten behandelt werden darf.
Sie unterstützt uns auch, die Vorlieben der Kinder früh wahrzunehmen und sie zum Beispiel nicht in einen Fußballverein zu schicken, weil dort gerade alle aus der Gruppe hingehen, wenn die Begabung des Kindes eher im musischen Bereich liegt. Vielleicht werden auch früh andere Talente entdeckt, wie vielleicht das Interesse am Bauen und Entwickeln – dann können dem Kind entsprechende Baukästen zum Üben angeboten werden. Oder das Kind ist ein sportlicher Typ und braucht von klein auf schon die Forderung mit entsprechenden Spielgeräten und viel Bewegung.
Gerade Kinder sind Spiegel für die Eltern und ahmen das Verhalten der Eltern schon von frühester Kindheit an nach.
Natürlich sind Begabungen meist schon in der Familie vorhanden, aber manchmal kommen auch unterschiedliche Anlagen von Mutter und Vater zusammen und das Kind bringt auch seine eigenen Anlagen noch mit in dieses Leben. Durch die Psycho-Physiognomik kann das beobachtet werden. Lässt man diese Aspekte außer Acht besteht leicht die Möglichkeit, dass Eltern und ganz besonders ein dominanteres Elternteil seine Interessen dem Kind überstülpt.
Es soll dann von früh an mit in den Bergen wandern, wozu es aber vielleicht gar nicht so viel Lust hat. Dieses Kind hat vielleicht mehr die Anlagen für eine kreative Beschäftigung. Natürlich geht es irgendwann immer darum, Kompromisse zu finden, denn das bereichert die Lebensweise einer jeden Familie. Dann darf sich der sportliche Elternteil mal mit kreativen Dingen beschäftigen und der visionäre Elternteil darf mal lernen, dass es sehr wohltuend sein kann, einfach mal in den Bergen zu wandern und die Verbundenheit zur Erde zu spüren. So erweitert jeder seine Lebensweise und Kinder lernen schon von früh an, dass es unterschiedliche Vorlieben gibt und jeder mal zum Zug kommt. Damit wagt sich auch das Kind, sein Wesen zu zeigen und sich damit wohl zu fühlen, so wie es ist.
Den gemeinsamen Weg gestalten
Es gibt also viel zu entdecken, wenn wir Kinder mehr begleiten und weniger erziehen. Das Wissen über Gesichter, über die Mimik und die Körpersprache macht vieles so viel einfacher im täglichen Umgang miteinander. Es erfordert nur genaues Hinschauen, Beobachten und ganzheitliches Wahrnehmen von dem, was sich zeigt und entwickeln möchte. Eltern, die verstehen, was in ihren Kindern innerlich vor sich geht, werden versuchen, dieses Bedürfnis der Situation angemessen zu befriedigen, ohne dem Kind alles zu gewähren, was es möchte. Das erfordert Übung und immer wieder das Einlassen auf den Augenblick, das Erkennen der eigenen Anlagen und das Wahrnehmen der eigenen Emotionen und Schattenthemen, die auch mit hineinwirken. So zeigt es sich, dass die Psycho-Physiognomik immer eine Anregung ist, sich auch mit sich selbst zu beschäftigen, den eigenen Charakter immer mehr zu entdecken und mit diesem Wissen dann auch das Kind gut in und durch das Leben zu begleiten. Wenn Eltern den Prozess der Selbstreflexion nicht gehen, besteht immer die Gefahr, dass man weitergibt, was man selbst erlebt hat. Vieles davon ist vielleicht gut, aber das eine oder andere dürfte auch verändert werden. Und als eigenständige Wesen werden Kinder früher wie heute selten gesehen. Wir stülpen schon früh „Schematas“ über unsere Kinder.
Deshalb ist es nicht nur für Eltern, sondern dann später auch für die „Erzieher“ im Kindergarten und die Lehrer in der Schule von ganz besonderer Bedeutung, dass sie möglichst viel von den Anlagen der ihnen anvertrauten Kinder erkennen. Nur das kann dazu führen, dass Kinder ihr volles Potenzial leben, ihre Anlagen mutig verwirklichen und zu sich stehen lernen. Damit werden Kinder dann auch die Erwachsenen, die wir brauchen, um den Wandel, in dem sich diese Welt befindet, zu gehen und aktiv mitzugestalten.
Rudolf Steiner sagte bereits 1922, dass die wichtigste Aufgabe des Lehrers ist, das Wesen des Kindes zu entdecken und es sollte keiner Lehrer werden, der diese Aufgabe nicht annimmt. „Es sollten nicht diejenigen Lehrer werden, die die besten Noten haben, sondern diejenigen, die das Wesen des Kindes entdecken und entwickeln wollen.“
Also seien wir alle der Wandel, den es für die Entwicklung braucht. Ein erster Einstieg kann ein Buch sein. Für ein tieferes Verständnis ist eine kundige Begleitung unerlässlich, da wir meist unser Weltbild aus unseren Prägungen heraus sehen. Denn unser Auge sieht nicht das, was ist, sondern das, was es selbst im Gehirn kombiniert.
So sieht jeder einen Gegenstand anders und wir dürfen uns darüber austauschen und damit unser Bewusstsein erweitern. Im offenen, freundlichen Dialog lernen wir voneinander und können uns helfen, dass jeder sich zur besten Version seines Selbst entwickelt.
Sie wollen mehr über ihr Kind erfahren? Dann empfehlen wir das Buch:
„Face-Reading für Eltern“ Erika Rau, Kösel Verlag.
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