Das Wirken von Carl Huter
Zur Geschichte der Psycho-Physiognomik – Teil 2
Der Naturforscher Carl Huter (1861–1912) gilt als der Begründer der heutigen Psycho-Physiognomik.
Sein Lehrwerk, das als Grundlage der angewandten Menschenkenntnis angesehen wird, beruht auf dem Satz: „In den Formen lebt der Geist.“ Huters Erkenntnis, dass jede Form eine Botschaft für uns hat, bezieht sich nicht nur auf die Gestalt des Menschen, sondern auf die gesamte Tier- und Pflanzenwelt, auf alle Formen der Natur. In diesem Artikel möchte ich auf sein bewegtes, schöpferisches, produktives und auch anstrengendes Leben eingehen. Tauchen Sie ein in das Wesen von Carl Huter.
Ein Gastbeitrag von Erika Rau.
Carl Heinrich Conrad Huter wurde 1861 in Heinde bei Hildesheim als Sohn des Wasserbaumeisters Heinrich Huter und seiner Frau Johanna geboren. Als Carl Huter nicht einmal sieben Jahre alt ist, stirbt sein Vater. Er wird bald danach eingeschult. Die Mutter ist arm und muss ihre Kinder in der Verwandtschaft aufteilen. Huter wird im selben Herbst zu einem Onkel gegeben, der eine kleine Landwirtschaft betreibt, damit er ebenfalls zum Bauern erzogen wird. Aber mit den feinen Händen und der zarten Gestalt kann der empfindsame Junge keine schwere Arbeit leisten.
Carl Huter wird hingegen durch einen Lehrer ganz besonders gefördert, denn er soll nach dessen Meinung und nach der des Pastors das Gymnasium in Hildesheim besuchen. Diese beiden geben ihm, da ihnen seine besondere Begabung auffällt, über Jahre hinweg einen Privatunterricht, der ihm eine weit über die Volksschule hinausgehende Bildungsgrundlage vermittelt. Die Pflegeeltern bringen für seine wissenschaftlichen Neigungen kein Verständnis auf. Für den kleinen Carl, der sich schon früh für unterschiedliche Menschen und ihre Charaktere interessiert, ist das keine leichte Zeit. Er leidet und hat Heimweh. Die Mutter besucht ihn selten. Vermutlich wird in dieser frühen Zeit bereits der Grundstein für spätere Beziehungsstörungen in seinem Leben gelegt.
Nach der Konfirmation an Pfingsten 1876 verlässt Carl Huter seine Pflegeeltern, die ihn überhaupt nicht verstehen, und geht zu seiner Mutter nach Heinde, wo er sich einige Wochen erholen kann. Er beginnt eine Lehre zum Porträt-, Dekorations- und Porzellanmaler in Hildesheim, da es ihm aus finanziellen Gründen nicht möglich ist, das dortige Gymnasium zu besuchen. Nach vier Jahren beendet er die Lehre mit Auszeichnung.
Aufbruch in die Wissenschaftlichkeit
Danach will er mehr. Er will in die großen Städte, zu den Geistes- und Naturwissenschaften. Es folgen bis 1884 naturwissenschaftliche, philosophische und psychologische Studien in Berlin, Dresden, Leipzig bei verschiedenen Professoren, denn ohne Abitur darf er nicht an die Universität. Also absolviert er eine weitere Ausbildung zum Porträtmaler. Eine Zeit lang ist er Anhänger der materialistischen Philosophie Ludwig Büchners. 1884 wird er für ein Jahr Mitglied der „Gesellschaft für harmonische Philosophie”. Er interessiert sich für Okkultes und beschäftigte sich intensiv mit Spiritualismus.
So entwickelt sich Carl Huter von seinem evangelisch-lutherischen Kirchenglauben seiner Heimat hin zur materialistischen Weltanschauung. Von dieser gelangt er in Dresden zur Schönheitsphilosophie (Kallisophie) und in Leipzig schließlich zum Spiritualismus.
1882 macht er den Entwurf des großen Naturellschemas zur Berechnung der Harmonie zwischen zwei, drei und mehr Menschen und formuliert die Keimblatttheorie als Grundlage der Naturelllehre. Im Herbst 1885 zieht er nach Hildesheim, wo er als Porträtmaler und Kunstgewerbler tätig wird sowie am Ausbau seiner Wissenschaften arbeitet. Die praktische Seite der Psycho-Physiognomik war zu jener Zeit bereits weit entwickelt, doch blieben manche wissenschaftliche Fragen noch zu klären.
Da alles, was ist, durch die Liebe entstanden ist, und eine Vervollkommnung des Lebens nur durch die Liebe möglich ist, so gibt es auch keine Geistes- und Erkenntniskraft, kein Studium und keine Wahrheitserkenntnis ohne Liebe.
Carl Huter
Zeit schwerer Entbehrungen
Immer wieder leidet Huter an Existenznöten, muss wie zuvor in Berlin Not, Hunger, Kälte und Elend erleiden. Vor allem im Winter ist es schwer, ausreichend Aufträge zu erhalten. Nach und nach erringt er sich doch eine kleine Existenz.
Im Frühling 1888 trifft er auf einer Zugreise ein Mädchen, dessen Erscheinung ihn fesselt: „Vom ersten Augenblick an, als ich Gesicht und Gestalt dieses Mädchens sah, war ich überrascht von der seltenen Schönheit; und mein ganzes Streben und Suchen nach einem weiblichen Wesen, das meinen idealen Wünschen entsprach, schien Leben und Gestalt angenommen zu haben.“ Minna Probst ist eine Bauerntochter, die er in der Folge näher kennenlernt. Doch da er finanziell nicht vermögend ist, kann er sich eine Heirat mit dieser seiner großen Liebe nicht leisten und so heiratet sie einen anderen. Als Folge davon erkrankt Carl Huter an einem schweren Halsleiden, schließlich wird Halskrebs diagnostiziert. Er verkauft sein in Hildesheim mühsam aufgebautes Geschäft und siedelt zuerst nach Wolfenbüttel, dann nach Braunschweig über, wo er einige künstlerische Aufträge hat. Die Ärzte können den Fortgang des Leidens nicht verhindern und zu allem Überdruss macht er in dieser Zeit zudem eine Cholera-Erkrankung durch.
Ablehnung der akademischen Rassenlehre
1889 prägt er den Begriff „Psycho-Physiognomik” für den naturwissenschaftlich fundierten Teil seiner physiognomischen Lehre. Er rückt damit ab von den zuvor verwendeten Begriffen „Psycho-Anthropologie” und „Anthropologie”. Mit dem Entwicklungsgang, der in der akademischen Anthropologie eingeschlagen wird, zeigt er sich nicht einverstanden. Insbesondere lehnt er die akademische Rassenlehre mit ihren rassistischen Begleittendenzen und die daraus folgende Popularisierung derselben ab.
Diese von der akademischen Anthropologie gelehrte Richtung, die vor allem von Medizinprofessoren angeführt wurde, führte geradewegs in die im Dritten Reich praktizierten selbstherrlichen und rassisch begründeten Diskriminationen und Vernichtungsprogramme. Im Dritten Reich wurden die Bücher von Carl Huter verboten, da sie den Menschen wertneutral nach ihrer Erscheinung, jenseits von Rasse und Abstammung, betrachteten.
Indem sich Carl Huter gegen die anthropologischen Lehren der führenden Mediziner wie Prof. Dr. Rudolf Virchow oder Prof. Dr. Wilhelm von Waldeyer und vieler anderer abgrenzt, handelt er sich erhebliche Nachteile ein. Seine Lehren kollidierten mit den Ansichten der Persönlichkeiten, die in den damaligen Wissenschaften das Sagen hatten und damit auch mit dem Bildungsbürgertum, das diesen folgte. In jene Zeit fallen die ersten Untersuchungen über die Helioda.
Im Herbst 1892 zieht Carl Huter zu einem Onkel nach Bremen, um zu einem Spezialisten in Behandlung zu gehen. Er wird mehrfach operiert, aber nicht geheilt. Als er die Kuhne-Kur kennenlernt, erfährt er Besserung, aber noch keine Heilung, bis er selbst die unterschiedlichen Naturheilmethoden studiert und ausprobiert. Da ihm weder die Medizin noch die Naturheilmethoden zur Heilung seines Leidens verhelfen, sucht er sich selbst durch sein eigenes Heilsystem, an dessen Grundlegung er arbeitete, zu heilen. Er gesundet schließlich und betreibt parallel allgemein naturwissenschaftliche und naturphilosophische Studien.
Zeit der Schriften und Lehren
Im Herbst 1893 nimmt Carl Huter seine seit 1884 ausgeübte Vortragstätigkeit wieder auf und formuliert das psychophysiognomische Grundgesetz. Er schreibt viele Gedichte und poetische Aufsätze. Außerdem arbeitet er an den wissenschaftlichen Grundlagen der Psychophysiognomik und Kallisophie*. In dieser Zeit schließt er erste Kontakte mit seiner späteren Gattin Henny Pieper, die er 1895 in London heiratet. Sie bekommen fünf Kinder zusammen. Nach der Rückkehr nach Hannover hält er Vortragsreisen, erzielt jedoch nur sehr geringe Einnahmen. Er verfasst die Schrift „Individuum und Universum. Die Philosophie des realen und idealen Seins im Weltgeschehen und im Persönlichkeitsbewusstsein”. In dieser wie in vielen anderen Schriften bezieht er Stellung gegen Diskrimination, Rassismus und Antisemitismus.
Im Anschluss an einen Vortrag wird Carl Huter von einem jungen Druckereibesitzer gedrängt, dessen kranke Frau nach seinem Heilsystem zu behandeln. Dies wird zu einem Wendepunkt in Huters Leben. „Es war nie meine Absicht gewesen, eine gewerbsmäßige Heilpraxis zu betreiben. Sehr schwere innere Kämpfe hat es mich gekostet, bis ich mich endlich dazu verstehen konnte.“
Im Frühjahr 1895 melden sich zahlreiche schwerkranke Kurgäste. Huter erzielt große Heilerfolge.
Wo Erfolge sind, da sind auch Neider und so muss er sich gegen eine Reihe von Prozessen und Widerständen behaupten. Fast alle dieser angestrebten Strafprozesse verlaufen im Sand. In einem Fall wird er zu einer Geldbuße verurteilt, weil er ein allgemein erhältliches Nahrungsergänzungsmittel einer abgelegen wohnenden kranken Person per Post zustellt. Mit solchen Schikanen versuchten die ansässigen Ärzte Carl Huter das Leben schwer zu machen.
Er arbeitet weiter an Teilen seines Buches „Die neueste Heilwissenschaft“. Weiter publiziert er einige Werke, in denen er zur Naturheilkunde und Schulmedizin Stellung nimmt.
1897 eröffnet er in Detmold eine eigene Kuranstalt, die Anlass für weitere Auseinandersetzungen, sowohl mit dem Naturheilverein als auch mit einigen ansässigen Ärzten, nach sich zieht. Er gründet den Carl-Huter-Verlag für die größeren Werke, 1903 den Arminius-Verlag für kleinere Schriften, Broschüren und Zeitschriften.
Es erscheinen die Schriften „Medizin, Wasserkur, Diät und Diagnose“ sowie „Der Wert von Ruhe und Schlaf“. Dazu gibt er weiterhin zahlreiche Vorträge am Detmolder Hof.
1898 erscheinen die Schriften „Meine Stellung zur Schulmedizin“ und „Gicht, Rheumatismus, Influenza und Erkältungskrankheiten und ihre erfolgreiche Behandlung.“
Ein Darlehen ermöglicht es ihm 1903 sein Hauptwerk „Menschenkenntnis“ abzuschließen und im eigenen Verlag als Manuskript herauszugeben. Dieses Lehrwerk, das in fünf Lehrbriefe mit je zehn beziehungsweise zwölf Lektionen gegliedert ist, ist die grundlegende Arbeit Carl Huters für ein neues Welt-, Natur-, Lebens- und Menschenverständnis. Der Mensch wird in diesem Werk in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt; alle Bereiche der Naturwissenschaft und Psychologie, der Religions- und Geisteswissenschaften werden herangezogen, wo dies sinnvoll ist. Huter legt in diesem Werk nicht nur die Psycho-Physiognomik und ihre wissenschaftliche Begründung dar, er publiziert mehr als 200 Entdeckungen in verschiedenen Wissenschaftsbereichen und wesentliche ethische und philosophische Darlegungen.
Ab 1907 verfasst Carl Huter einige Publikationen, die allgemeinverständlich einzelne Themen der Psycho-Physiognomik und vor allem die Kallisophie bearbeiten. 1907 erscheint „Die Naturelllehre als Grundlage der praktischen Menschenkenntnis“.
Visionärer, streitbarer Einzelgänger
Carl Huter versammelt immer wieder viele Anhänger, Bewunderer und Unterstützer um sich, die sich seinem „Huterschen Bund“ anschließen. Doch er bleibt ein freiheitsliebender Forschergeist, der sich nicht mit den Forderungen und Gegebenheiten der etablierten Wissenschaft arrangieren will. So lehnt er den Ruf als Professor an die Universität Wien ab. Sein Mut, auch gegen gewachsene Strukturen und Hierarchien anzugehen, lässt viele Anhänger sich wieder von ihm abwenden. Ähnlich wie Samuel Hahnemann, der Begründer der Homöopathie, durchläuft er viel persönliches Leid, um seiner inneren Bestimmung treu zu bleiben.
Carl Huters Privatleben bleibt schwierig. In einer Vernunftehe mit Henny Pieper gebunden lernt er Irma Fleischhacker kennen, die ihn sehr liebt. 1908 trennt sich Carl Huter von Frau und Familie in Detmold und begibt sich nach Leipzig. Er wird allein schuldig geschieden, dem er jedoch nie so zustimmen konnte. Er litt sehr darunter, denn das bedeutete, dass er die Mutter seiner beiden letzten Kinder nicht heiraten durfte, was er gerne gewollt hätte.
1909 gründet Carl Huter drei Institute:
- Eine freie Hochschule für psychologische Forschung und vergleichende Natur- und Religionswissenschaften
- Ein psychologisches Untersuchungsinstitut für biologische, psychologische, psycho-physiognomische, graphologische und psychometrische Feststellungen und Gutachten
- Ein psychologisches Museum mit kunstwissenschaftlicher, naturgeschichtlicher und psychologischer Ausrichtung
Alle drei müssen wegen fehlender finanzieller Mittel nach zwei Jahren wieder schließen. Der größte Teil von Huters Bücher wird zum Papierpreis verkauft oder vernichtet. Die gesamte Habe geht in die Hände einer Anzahl von Käufern über. Am 4. Dezember 1912 stirbt Carl Huter im Alter von 51 Jahren in Dresden an Herzversagen.
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