Beziehungsarbeit
Die Geschichte zwischen Wolf und Mensch
Jagdpartner, verehrtes Totem, Konkurrent, Todfeind, Projektionsfläche: Die Beziehungsgeschichte zwischen Wolf und Mensch ist so wechselhaft wie … naja … unser Liebesleben. Jetzt ist unser alter Freund und Feind wieder da. Wie wir mit ihm umgehen, zeigt, wieviel wir dazugelernt haben. Und ob wir bereit sind, die großen Krisen des 21. Jahrhunderts zu bewältigen.
Ein sonniger, eiskalter Morgen im Spätwinter 2010 in den bayerischen Alpen: Der Schnee knirscht im Takt der Schritte, während die Tourengeher ihre befellten Ski vorwärts Richtung Gipfel schieben. Die Spur vor ihnen ist durchsetzt von Pfotenabdrücken. Riesige Abdrücke, mindestens so groß wie der Handteller eines Mannes. Kurz unter der Waldgrenze verlassen die Spuren plötzlich die ausgetretene Bahn und verschwinden auf Nimmerwiedersehen im Unterholz. Ein Hund, der hier frühmorgens sein Herrchen oder Frauchen auf Skitour begleitete? Eher nicht. Ein Wolf? Die Vorstellung, einem dieser
charismatischen Tiere, die noch bis vor wenigen Jahren als ausgerottet galten, in freier Wildbahn so nahe zu sein, berührt die beiden Sportler tief. Wenige Wochen später und nur ein paar Kilometer entfernt steht im Tal bei Bayrischzell ein Landwirt vor vier blutigen Kadavern, die am Tag zuvor noch seine Schafe gewesen waren. Auch er ist tief berührt, aber in ganz anderer Weise. Wut und Verzweiflung stehen ihm ins Gesicht geschrieben. Die Befunde der Experten geben schließlich Gewissheit: Ein Wolf hat diese Tiere gerissen. Nach eineinhalb Jahrhunderten Abwesenheit ist er wieder zurück.
Der Heimkehrer
Deutschland ist aktuell weltweit Wolfsland Nummer eins: Nirgendwo sonst wächst die Wolfspopulation derart schnell. Vor gut 20 Jahren gab es hier so gut wie keine Wölfe, mittlerweile gehen die Schätzungen von mehr als 2000 aus. Wenn Deutschland seine Politik in Sachen Beutegreifer beibehält, wird die Kurve weiterhin steil nach oben zeigen – solange, bis die Reviere besetzt sind. „Um bis zu 20 Prozent wachsen die Wolfspopulationen in einem Jahr“, sagt Kurt Kotrschal. Der österreichische Verhaltensforscher gilt als einer der renommiertesten Wolfskenner. Der emeritierte Professor der Universität Wien hat das Forschungszentrum Wolf Science Center in Ernstbrunn ins Leben gerufen und ist der Nachfolger von Konrad Lorenz am gleichnamigen Forschungsinstitut. Wo der Wolf allerdings noch kaum Fuß fassen konnte, ist ausgerechnet in Kotrschals Heimatland, genauso wie in den benachbarten Regionen Bayerns. „Zu viele illegale Abschüsse”, vermutet Kotrschal.
Deutschland ist aktuell weltweit Wolfsland Nummer eins: Nirgendwo sonst wächst die Wolfspopulation derart schnell.
Der Wolf spaltet die Gemüter der Menschen in Mitteleuropa wie kein anderes Tier. Die einen wünschen sich sehnlich die Rückkehr der wilden Natur in die westliche, von der Industrie dominierten Zivilisation herbei. Die anderen fürchten um ihre berufliche Existenz. Warum die Landwirte Angst um ihre Nutztiere haben, liegt auf der Hand: Jahrhundertelang kämpften sie gegen den Wolf, der ihnen ihre Schafe, Ziegen und Rinder streitig machte, bis man ihn endlich für besiegt erklärte. 1871 wurde der letzte Wolf in der Schweiz erschossen, elf Jahre später ging es dem letzten Wolf in Bayern an den Kragen und ungefähr zur selben Zeit galten die Wölfe auch in Österreich als ausgerottet. Das erleichterte das Wirtschaften enorm: Berufe wie Schäfer oder Kuhhirte gehörten ab da der Vergangenheit an, als Zäune reichten dünne Drähte mit Strom, die das Vieh davon abhielten auszubrechen.
74 Prozent der Österreicher begrüßen laut einer Umfrage von 2017 die zurückkehrenden Beutegreifer, in anderen europäischen Ländern sind es sogar bis zu 90 Prozent.
Erinnerungen an eine alte Liebe
Inzwischen mehren sich die Stimmen, die die Wölfe wieder willkommen heißen. 74 Prozent der Österreicher begrüßen laut einer Umfrage von 2017 die zurückkehrenden Beutegreifer, in anderen europäischen Ländern sind es sogar bis zu 90 Prozent. Woher kommt dieser Stimmungswandel? Ist es die nostalgische Erinnerung an eine längst vergangene Liebe, von der über die Jahre hinweg nur noch die schönen Stunden in Erinnerung geblieben sind?
Tatsächlich ist die Beziehung zwischen Wolf und Mensch eine uralte und außerdem eine, die sich ordentlich ins Geschehen der Evolution eingemischt hat. Vor 42.000 Jahren begann die Gemeinschaft zwischen Wolf und Mensch als eine Art Kooperation zwischen zwei Jägern, die einander laut Kotrschal ziemlich
ähnlich waren. „Beide sind hochkooperative Kleingruppenwesen. Beide kooperieren innerhalb ihrer Gruppen, ihrer Rudel sehr komplex, bei der Nahrungsbeschaffung, bei der Aufzucht der Jungen, aber auch im Abwehren von Nachbarn und Fremden.“ Dieses schlagkräftige Team ermöglichte eine Form der Jagd, die sich vor 35.000 Jahren, als sich – zufällig? – auch das erste Hunde-Genom vom Wolfs-Genom abspaltete, blitzartig über den ganzen eurasischen Kontinent verbreitet hat: die Mammutjagd.
Sicher habe es auch spirituelle Gründe gegeben, warum Wolf und Mensch zusammenfanden, vermutet Kotrschal. Die Jäger und Sammler, die vor 42.000 Jahren aus Afrika einwanderten, „das waren Animisten, die bereits mit den Vorstellungen von Mensch-Tier- Beziehungen aus Afrika kamen. In Europa hat wohl relativ rasch der Wolf den Löwen abgelöst als Haupt- Projektionstier.“ Ein Drittel unserer heutigen Gene stammt von diesen Jäger-und-Sammler-Vorfahren. Laut Kotrschal pflegt fast ein Drittel der Bevölkerung auch heute noch mystisch-animistische Vorstellungen in Zusammenhang mit dem Wolf. „Menschliche Spiritualität kommt aus dem Eck der Mensch-Tier-Beziehung“, sagt der Verhaltensforscher. Sie sei typisch für den Menschen und der Gegenpol in Zeiten, in denen Wissen und Technologie die Gesellschaft vollständig dominieren. Kein Wunder also, dass der Wolf derzeit wieder so viel Unterstützung aus der Bevölkerung bekommt. Gedreht hat sich die Stimmung aber erst mit zunehmender Sehnsucht nach einer intakten Natur.
Die Verwandlung von Liebe in Hass
Mit dem Sesshaftwerden der Menschen veränderte sich ihre Beziehung zu Wolf und Hund radikal. Hunde rutschten in der Hierarchie der neuen patriarchalischen Gesellschaft von Partnern auf Augenhöhe ab zu untergeordneten Dienern. Entsprechend wurde Unterwürfigkeit zu einem Selektionskriterium in der Evolution unserer liebsten Vierbeiner. „In den letzten paar tausend Jahren war ein Hund, der nicht funktioniert hat, ein toter Hund“, resümiert Kotrschal. „Das Verhältnis war sehr asymmetrisch und findet erst jetzt in unseren urbanen Gesellschaften wieder etwas Partnerschaftliches.“ Der wilde Wolf jedoch, der sich
dem Menschen nicht unterordnen wollte, wurde zum Konkurrenten um die Nutztiere – und damit zum Todfeind. Die schlimmsten Schauergeschichten vom Wolf als menschenfressende Bestie stammen aus den Zeiten von Pest und Dreißigjährigem Krieg. Damals machten sich Wölfe auch über Menschenleichen her; angesichts der fürchterlichen hygienischen Verhältnisse nicht allzu verwunderlich. Im Mittelalter wurden durch die Tollwut auch Wölfe zu Todesbringern für die Menschen.
Die Tollwut gilt mittlerweile in Europa als ausgerottet, Begegnungen zwischen Wolf und Mensch sind rar und Übergriffe auf den Menschen noch seltener
(und wenn, dann verursacht durch unwissenschaftliche Zähmungsversuche). Diejenigen, die de facto noch Berührungspunkte mit dem Wolf haben – und zwar über ihre Nutztiere – sind die Bauern. Dementsprechend schlecht sind sie auf ihn zu sprechen.
Lernen, mit dem Wolf zu leben
Natürlich, die Viehhalter bekommen in den meisten Ländern Entschädigungen gezahlt für jedes vom Wolf getötete Tier. Und auch für die Umsetzung von Herdenschutzmaßnahmen gäbe es finanzielle Unterstützung aus Brüssel. Doch die Maßnahmen fordern ein massives Umdenken, sind aufwändig und komplex und ziehen weitere Probleme nach sich: Zäune müssen gepflegt werden, Herdenschutzhunde müssen trainiert und der Umgang mit ihnen
muss gelernt werden. Es braucht ausgebildete Hirten und Schäfer, die gerecht entlohnt werden müssen. Und was ist mit den seltenen Amphibien, von denen vermutlich etliche beim Durchkriechen unter den elektrifizierten Zäunen ihr Leben lassen?
Im alpinen Gelände wird es schwierig, massive Herdenschutzzäune aufzustellen. Mobile Zäune oder Pferche können die Herden zumindest nachts absichern.
Hier sind Hirten und Hunde umso mehr gefragt. Doch letztere wiederum, fürchten Touristiker, könnten die Wanderer verschrecken oder
gar angreifen. Viele Landwirte fordern deshalb die altbewährte Methode: Wölfe zum Abschuss freigeben! Für Kotrschal ist das freilich keine Lösung, nicht nur wegen der Arterhaltung. „Das Abschießen von Wölfen bringt ständig deren Sozialgefüge durcheinander, und gestresste Wölfe gehen viel eher auf
Weidetiere los.“
Er zitiert eine Studie aus einem Gebiet in Frankreich, wo jährlich etwa 10 Prozent der Population abgeschossen werden, wobei die Übergriffe auf Weidetiere aber eher zu- als abnahmen. „Außerdem bewirkt das Schießen, dass Halter den Herdenschutz vernachlässigen und dass die Wölfe die Reproduktion anwerfen und mehr Nachwuchs zur Welt kommt. Daher ist es nicht besonders gescheit, da reinzuschießen.“ Viel gescheiter wäre laut Kotrschal, auf etablierte Wolfsrudel zu setzen. „Durchwandernde Einzelwölfe bedienen sich eher an Nutztieren, während Rudel – sofern der Herdenschutz sorgfältig betrieben wird – sich aufs Wild konzentrieren.“
Das eigentliche Problem
Hinter den Aggressionen der Landwirte vermutet Kotrschal aber noch ein ganz anderes, größeres Problem: Der Wolf werde zum „Sündenbock für erlittene Einbußen und Demütigungen durch eine überzogene Bürokratie und verfehlte Landwirtschaftspolitik.“ Der Experte Frank Fass, Gründer des Wolfcenters im niedersächsischen Dörrverden, nennt die Problematik einen „Stellvertreterkonflikt“, der für ihn „den Kern aller Streitigkeiten um den Wolf und die Nutztierhaltung (und auch zur Jagd) darstellt“.
Wenn der Wolf nur Stellvertreter ist, was ist dann das wahre Problem? Die geringe Wertschätzung, das kaum vorhandene Interesse für die Arbeit der Landwirte, sagt Frank Fass. Kurt Kotrschal wird noch deutlicher: „Nur angemessene Erzeuger- und Verbraucherpreise
können die gekoppelten Miseren von Landwirtschaft und Artenschutz nachhaltig lösen.“
Das System ist also an mehreren Stellen in Schieflage geraten, und die Konfrontation mit dem Wolf fordert uns dazu auf, es wieder gerade zu richten. Beziehungsarbeit ist nun mal nötig, wenn man zusammenlebt. (Dagmar Steigenberger, Verlag Sonne Mond und Erde)
30. April: Der Tag der Wölfe
Der NABU (Naturschutzbund Deutschland e.V.) begleitet seit 2005 die Rückkehr des Wolfes nach Deutschland. Um Ängste und Sorgen in der Bevölkerung abzubauen und um für mehr Akzeptanz für den Wolf zu werben, hat der NABU deshalb den 30. April zum „Tag des Wolfes“ ausgerufen. Die erste Auflage des bundesweiten Wolf-Tages stand 2013 unter dem Motto „Rotkäppchen lügt!“ und versuchte in ganz Deutschland mit zahlreichen Aktionen ein öffentliches Bewusstsein für den notwendigen Schutz der Tiere zu schaffen. Warum die Wahl ausgerechnet auf den 30. April fiel, erklärt der NABU aus wissenschaftlicher Sicht: Dieses Datum markiert das Ende des Wolfsjahres, also die wissenschaftliche Dokumentation, wie viele Tiere wo in Deutschland leben. Da Wölfe ihre Jungen in der Regel im Mai zur Welt bringen, hat sich die Wolfsforschung hier auf den Beginn eines neuen Zählzyklus geeinigt. Passend dazu veröffentlicht der NABU immer am 30. April die aktuellsten Zahlen zur Verbreitung des Wolfes in Europa. Hier der Link dazu: www.nabu.de/tiere-und-pflanzen/saeugetiere/wolf/europa/index.html
Literatur zum Wolf
„Der Wolf und wir“: Darin erzählt Kurt Kotrschal, einer der renommiertesten Verhaltensforscher, über die Geschichte, die Wolf und Mensch verbindet, wie aus den Wölfen allmählich die Hunde wurden und wie wir es schaffen können, die beiden größten Krisen des 21. Jahrhunderts zu bewältigen (erschienen 2022 im Brandstätter Verlag).
„Wildlebende Wölfe“: von Frank Fass ist ein solides fachliches Grundlagenwerk, das die Nutztierhalter beim optimalen Herdenschutz unterstützt (erschienen 2018 im Müller Rüschlikon Verlag).
„Der Zorn der Wölfe“: Ein wunderschöner, wenn auch tragischer Roman über die Wölfe in der Mongolei und darüber, wie die nomadische Kultur allmählich der Umweltzerstörung zum Opfer fällt (erschienen 2010 im Goldmann Verlag). Das Buch von Jiang Rong wurde von Jean Jacques Annaud unter dem Titel „Der letzte Wolf“ im Jahr 2015 verfilmt – allerdings mit einem deutlich softeren Ende.
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