Die Trotzphase
Entwicklung des Kindes
Wir schenken unseren Kindern all unser Vertrauen, geben ihnen unsereganze Liebe, und wollen immer nur das Beste. Aber wissen wir überhaupt, was die Kinder und ganz besonders die Kinderseele zum jeweiligen Entwicklungs-Zeitpunkt braucht?
Kennen wir die Entwicklungsschritte unserer Kinder wirklich? Wir betrachten heutzutage die Entwicklung unserer Kinder meist nur von außen, somit die körperliche Entwicklung. Was aber entwickelt sich im Inneren des Kindes? In den ersten Lebensjahren werden die Grundlagen für die späteren Entwicklungsschritte von Körper und Seele angelegt und geprägt.
In den ersten Lebensjahren entdeckt das Kind die Welt. Es ist noch völlig von der Umwelt abhängig, es gibt sich aber auch ganz seiner Umgebung hin und dies ist ganz besonders beim Stillen zu beobachten. Der ganze Körper des Säuglings ist daran beteiligt, das rhythmische Öffnen und Schließen der Finger und das Strampeln oder die Bewegungen der Füße und Beinchen, zeigt es überdeutlich. In der Psychosophie spricht man davon, dass sich die Seele in den ersten Lebensjahren ganz für die Außenwelt öffnet. So verläuft die erste Lebensphase mit Trinken und Schlafen. Hat es ein Unwohlsein oder Hunger, kann es das nur durch Schreien zum Ausdruck bringen. Das Schreien eines Kindes lässt sich sehr wohl unterscheiden, ob es Hunger hat oder ob das Unwohlsein von einem Schmerz oder einer vollen Windel kommt. Das ist die erste Wahrnehmungsübung für die Eltern, die Sprache des Kindes zu lernen und sich auf das Kind einzulassen. Wie von einer geführten Hand entwickelt sich nach und nach das Ergreifen der Welt. Ab der 2. Hälfte des ersten Lebensjahres beginnt das Kind mit dem Aufrichteprozess in Form von Sitzen, Grabbeln und Hochziehen. Auch hier können bereits erste Anlagen des Kindes erkannt werden, zum Beispiel, wie meistert das Kind diese Stufen vom ersten Sitzen bis zum Stehen und den ersten eigenen Schritten? Wie stellt es sich in die Welt und bewegt es sich durch die Welt, selbstbewusst und zielstrebig oder vorsichtig und etwas ängstlich?
Etwa ab dem 2. Lebensjahr beginnt das Kleinkind mit der Eroberung der Sprache von ersten Brabbellauten bis hin zu vollständigen Worten und Sätzen. Diese Phase ist spätestens zum Ende des 3. Lebensjahres abgeschlossen. Auch diese Phase ist essenziell und kann aktiv unterstützt werden. Bildet doch die Sprache die Grundlage für die Kommunikation im Miteinander. Der Sprachsinn der Kinder wird dadurch gefördert, dass man ihnen vorliest, Geschichten erzählt und aktiv und viel mit den Kindern spricht.
Ab dem 3. Lebensjahr beginnt das eigene Ich(1) im Kind zu erwachen. Ab jetzt steht es auf einmal der Welt ganz anders gegenüber.
In der ersten Phase befand sich das Kind wie in der Welt stehend, es war eins mit den Pflanzen, den Tieren und mit allem, was es umgibt. Das ändert sich, sobald das Kind „Ich“ zu sagen beginnt. Hieß es vorher „der Tim hat dies gebastelt“, heißt es jetzt „ich habe es gebastelt“, oder „ich will
es haben“. Vorher sprach es in der 3. Person von sich.
1) Ich bedeutet hier höheres Selbst in Abgrenzung zum Ego oder auch niederes Selbst.
Das Kind nimmt sich ab diesem Zeitpunkt als eigenständiges Wesen gegenüber der Umwelt wahr. Ab jetzt nimmt es eine Grenze zwischen sich und der Umwelt
wahr. Das Lieblingswort dieser Phase ist „nein“. Damit probiert es aus, wo die eigene Grenze des Ichs liegt, wie weit es gehen kann, beziehungsweise wo die Grenzen von den Geschwistern und Eltern liegen. Wie weit darf ich gehen, was gehört sich in einer Gemeinschaft und was stößt auf Widerstand. Diese Phase wird auch die Trotzphase genannt.
Ein Kind im Trotzalter kann für Eltern eine echte Herausforderung sein, verwandelt sich das Kind doch in Sekundenschnelle von einem eben noch friedlich spielenden, kleinen Engelchen in einen regelrechten Wüterich. So anstrengend diese Phase für Eltern auch sein mag, so wichtig ist sie für die Entwicklung des Kindes. Dies gilt es sensibel wahrzunehmen und weise damit umzugehen, denn das ist die Phase, in der Kinder ein Bewusstsein ihres eigenen Selbst entwickeln. Eine Phase, in der sie beginnen, ich aus dem symbiotischen Verhältnis zu ihren Eltern zu lösen und autonom zu werden. Eine Phase, in der eben das Wörtchen „nein“ eine ungeahnte Bedeutung bekommt.
Trotzphase – Entwicklung des Ichs
Der Augenblick des ersten „Ich-Sagens“ kennzeichnet einen Meilenstein in der kindlichen Entwicklung. Bis in diese Zeit reichen auch die erste Erinnerung an Ereignisse zurück. Es sind die Ereignisse, auf die sich das Ich beziehen kann. Das Ich-Bewusstsein entwickelt sich, indem es sich gegen die Außenwelt stellt, sich ihr widersetzt. Deshalb wird es auch gerne als Trotzalter bezeichnet. Sie tritt völlig unerwartet um den 3. Geburtstag auf und dauert meist einige Monate. Dann hat sich das Ich ausreichend gefestigt, und das Ich kann sich auch entsprechend erleben, wo es sich nicht gegen die Außenwelt stemmen muss.
Das Trotzalter ist für die Eltern und Erzieher oft zum Verzweifeln, muss jetzt mit viel Geduld und Takt erreicht werden, was bisher gewohnte Lebensverrichtungen waren. Diese möglichst so durchzusetzen, ohne das Kind unnötig zur Auflehnung zu bringen, ist die Kunst und Herausforderung dieser Zeit. Hier kann es sehr hilfreich sein, die Aufmerksamkeit vom Gegenstand des Widerstrebens abzulenken.
Gerade im Widerspruch zur Außenwelt übt sich das Ich-Bewusstsein. Es ist ein allgemeines Gesetz in der Sinnespsychologie, dass Bewusstsein nur dort entsteht, wo Widerstand empfunden wird. Wir fühlen unsere Haut erst dann, wenn von außen Druck auf sie ausgeübt wird. Solange wir im Strom der äußeren Geschehnisse mitschwimmen, entwickeln wir kein starkes Ich-Bewusstsein. Es entsteht erst, wenn wir uns selbstbewusst den Ereignissen entgegenstellen.
Der Erwachsene tut dies auch, indem er sich der Außenwelt entgegenstemmt oder sich ein eigenständiges Urteil bildet, das er dann auch mit Nachdruck und mit eigenen Argumenten vertritt. Das kleine Kind kann sich nur widersetzen und sagt dann: „Ich will nicht!“
In der Auflehnung gegen den gewohnten Strom der Ereignisse erlebt sich das Kind, dass es nicht immer das tun muss, was die Umwelt von ihm verlangt.
In dieser Phase ist es wichtig, den Unterschied zwischen den gewöhnlichen Unlustreaktionen und dem Widerstand während des Trotzalters zu erkennen, in dem plötzlich alles nicht mehr gewollt wird, was früher mit Freude getan wurde. Im Laufe der auf das Trotzalter folgenden Entwicklungsjahre bildet sich das Ich-Bewusstsein auf zwei Arten weiter. Zunächst tritt ein kontinuierliches Verhalten auf Basis des Ich-Bewusstseins auf und tritt nicht nur in bestimmten Situationen auf. Dann verlagert es sich vom äußeren Agieren gegen die Welt mehr hin zur inneren Urteilsbildung über die Welt.
Diese Prozesse vollziehen sich bis zum sechsten Lebensjahr, bis das Kind zur Schule geht, denn dort ist eine gewisse Stabilität des Ich-Bewusstseins sinnvoll und wünschenswert, damit erfolgreiches Lernen stattfinden kann. Zu diesem Zeitpunkt beginnt auch die Ausgestaltung der Urteilskraft. Ein körperliches Signal für die Schulreife ist es, wenn sich die zweiten Zähne bilden.
Ich-Entwicklung einlebenslanger Prozess
Auch im späteren Alter bleibt die erste Antwort auf eine Kränkung des Ichs die primitive Widerstandsreaktion. Das „… das lasse ich mir nicht bieten, denen werde ich mal eben …“ kennt sicherlich jeder.
Diese Widerstandsreaktion kann und sollte mit zunehmendem Ich- Bewusstsein aufgelöst werden, indem man zu einer ruhigen, situationsgerechten Urteilsbildung kommt. Für diese ruhigere Urteilsbildung muss man sich mit dem Ich außerhalb der Ereignisse halten und sie als reiner Beobachter wahrnehmen, denn nur mit dieser Haltung ist man in der Lage zu erkennen, was einen in einer bestimmten Situation getriggert hat.
Daraus wird deutlich, dass das Ich-Bewusstsein vom ersten Erwachen im 3. Lebensjahr bis ins hohe Alter weiterentwickelt wird, beziehungsweise bewusst weiterentwickelt werden sollte. Dadurch wird die Basis geschaffen, dass sich die Menschheit von einer Ego-Gesellschaft hin zu einer echten Wir-Gesellschaft entwickeln kann. Das Wort „Ich-Bewusstsein“ drückt bereits aus, dass es sich um die Offenbarung des Ichs im Bewusstsein handelt, es somit als eine Funktion angesehen werden kann, die mit dem bewussten Gedankenleben zusammenhängt – man macht sich sein Handeln und die Reaktionen daraus bewusst.
Wird der Trotzphase des Kindes aufgrund von eigenen inneren Schattenthemen (2) der Eltern nicht ausreichend gesunder Widerstand entgegengesetzt, so kann sich das „Ich“ des Kindes nicht voll und ganz entwickeln. Es kennt dann seine Grenzen nicht und das Kind bleibt wie in einer ewigen „Trotzphase“ stecken. Dies kommt dann meist zwischen dem 9. und 11. Lebensjahr nochmals zum Vorschein, denn in diesem Alter steht ein weiterer wesentlicher Entwicklungsschritt an. Die Trotzphase ist so essenziell, dass, wenn das eigene Ich nicht gefestigt ist, es später zu Störungen der Ich-Persönlichkeit
kommen kann. Jede Entwicklungs-Phase kann nachgeholt werden, jedoch muss es zunächst erkannt werden, dann kann aktiv mit entsprechender Anstrengung und Ausdauer die versäumte Phase des Kindes nachgeholt werden. Die Eltern sollten sich spätestens dann den eigenen unbewussten Schattenthemen annehmen und ihre Bewusstseins-Arbeit beginnen.
Fazit: Kinder entwickeln sich in den ersten Jahren nicht nur körperlich, sondern es werden wichtige Grundlagen für die seelische Entwicklungsarbeit der späteren Jahre gelegt. (tl)
2) Schattenthemen sind unbewusste Erfahrungen, Gefühle, Emotionen, die uns Handlungen ausführen lassen, die der Vermeidung von schmerzhaften Situationen dienen. Meist liegen die in der persönlichen Kindheit tief vergraben.
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