Ego & Ich
Worin liegt der Unterschied?
Die Begrifflichkeiten von Ich und Ego ähneln sich vordergründig. So kommt es vor, dass sie mitunter verwechselt, vertauscht oder beliebig verwendet werden. Doch kann das eine Wort durch das andere einfach ausgetauscht werden? Wir versuchen eine Erklärung für die heutige Zeit und wollen ein paar Anregungen zum Nachdenken vermitteln. (tl)
Wir beginnen bei der Begriffsklärung des „Egos” beziehungsweise „Egoismus”.
Der Duden beschreibt Egoismus mit der „Haltung, die gekennzeichnet ist durch das Streben nach Erlangung von Vorteilen für die eigene Person, nach Erfüllung der die eigene Person betreffenden Wünsche ohne Rücksicht auf die Ansprüche anderer; Selbstsucht, Ichsucht, Eigenliebe“. Weiterhin finden wir im Duden auch auch eine Beschreibung zum Über-Ich, das wie folgt definiert wird: Eine „durch die Erziehung entwickelte und als eine Art Richtschnur der Kontrolle dienende, regulierende Instanz der Persönlichkeit.”
Dieser Begriff des Über-Ichs wird heute häufig in der Psychologie verwendet. Aber ist damit der Begriff „Ich” gleichzusetzen? Für die rein physisch-sinnliche Ebene mag diese Definition ausreichen. Wir möchten aber weiter forschen und haben noch nach dem Begriff des „Ich” gesucht sowie hierfür Quellen aus der Literatur und Philosophie herangezogen. Wenn wir unseren Blick in Richtung der deutschen Literatur wenden, werden wir fündig. In ihren Werken setzen sich Philosophen und Schriftsteller wie Fichte, Schiller und Goethe mit dem Begriffspaar auseinander.
Das höhere Ich und Ego in der Philosophie und deutschen Literatur
Der spanische Diplomat und Kulturphilosoph Salvador de Madariaga (1886 – 1978) machte auf ein wesentliches Charakteristikum der Deutschen Sprache aufmerksam und damit auf einen wichtigen Aspekt des “Ichs”: Das Empfinden des ständigen Werdens, dem die besondere Veranlagung des Deutschen nach unaufhörlicher Entwicklung seines eigenen Wesens zum Ausdruck kommt, seines innersten Ichs:
„Das Hauptmerkmal der deutschen Sprache (…) ist wohl das Vorherrschen des Wortes »werden«. (…) Dieses Merkmal verleiht der Sprache eine Art von ständiger Bewegung, eine Qualität des Fließens (…), welche der tiefste Wesenszug des deutschen Lebens ist. (…) Was für England und Frankreich nur ein Gedanke unter vielen ist und für Spanien überhaupt kein Gedanke, ist für Deutschland geradezu der Wesenskern allen Denkens, so dass eben beide, die Sprache und das Denken, in Deutschland das Fließen eines Stromes annehmen.“ 1
Das Ich ist in seinem Grunde nichts Fertiges, sondern ein Werdendes, sich Entwickelndes. Damit unterscheidet es sich von dem, was wir gewöhnlich im Alltag als „Ich“ bezeichnen, das ein Beharrendes ist, das immer bleiben will, wie es ist. Dieses erscheint gleichsam als ein verzerrtes Spiegelbild des wahren, höheren Ichs, das selbst nicht unmittelbar in das Alltagsbewusstseins eintritt, sondern sozusagen im Hintergrund schwebt. Aber sein Einfluss ist spürbar und beobachtbar.
Wir messen die Zustände um uns und das Handeln der anderen Menschen mehr oder weniger unbewusst ständig daran, wie es eigentlich sein sollte. Und wir merken, dass wir auch selbst mit unserem Verhalten, unserem Tun und unseren Fähigkeiten vielfach nicht zufrieden sind. Wir genügen nicht unseren eigenen Idealen und moralischen Ansprüchen. Wir bleiben zumeist hinter ihnen zurück.
Dies festzustellen ist aber nur möglich, wenn es eine höhere Instanz in uns gibt, die das, was wir gewöhnlich „Ich” nennen, beurteilt und am eigenen höheren Maßstab misst – das höhere Ich. 2
Friedrich Schiller schrieb in seinen „Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795)“:
„Jeder individuelle Mensch, kann man sagen, trägt, der Anlage und Bestimmung nach, einen reinen idealischen Menschen in sich, mit dessen unveränderlicher Einheit in allen seinen Abwechslungen übereinzustimmen die große Aufgabe seines Daseins ist.“
Er verwies dabei auf seinen Freund, den Philosophen Johann Gottlieb Fichte, der ebenfalls das empirische, also das gewöhnlich erfahrbare Ich, von einem reinen, idealen Ich unterscheidet. Dieses ist für ihn das „erste Prinzip aller Bewegung, alles Lebens, aller Tat und Begebenheit”, das dem intelligenten, bewussten Ich logisch vorangeht. Beide „Ichs” stimmen selten überein, sie aber zur vollkommenen Übereinstimmung zu bringen, sei die ständige Aufgabe und Bestimmung des Menschen. Doch dazu reiche der bloße Wille nicht aus. Wir müssten uns allein und gemeinsam in einem ständigen Prozess des Lernens und der Selbsterziehung die Fähigkeiten dafür erwerben, um die Widerstände und Hindernisse der Sinneswelt zu überwinden. Und diesen ganzen Prozess des Erwerbs vielfältiger Fähigkeiten mache letztlich das aus, was wir „Kultur“ nennen.
Die deutschen Dichter haben diesen vielfach unbewussten Prozess in Dramen und Entwicklungsromanen literarisch beschrieben, wie zum Beispiel in Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, in denen „die geistig-seelische Entwicklung einer Hauptfigur in ihrer Auseinandersetzung mit sich selbst und mit der Umwelt dargestellt wird die ihre Erlebnisse und Erfahrungen reflektierend verarbeitet und (ihrer) Persönlichkeit einverleibt.“ (Quelle: Wikipedia)
Es geht im Grunde immer um die Auseinandersetzung zwischen dem in seinen Eigenheiten beharrenden niederen Ego und dem höheren Ich, das eine Änderung, ein partielles Absterben des Niederen verlangt, damit der Mensch nicht stehen bleibt, sondern sich im Werdestrom – in die Zukunft hinein – weiterentwickelt.
Goethe fasste dies schließlich mit den Worten zusammen: „Und solang du dies nicht hast / Dieses Stirb und Werde, / Bist du nur ein trüber Gast / Auf der dunklen Erde.“ Und Friedrich Rückert sah das höhere Ich als etwas an, das wie ein Zukunftsbild vor jedem schwebt, dessen Realisierung er entgegenstrebt und dichtete: „Vor jedem steht ein Bild des, was er werden soll: / Solang er das nicht ist, ist nicht sein Friede voll. / Was er geworden ist, genüget nie dem Mann; / O wohl ihm, wenn er stets nur werden will und kann.”
Der Herrscher in uns
Im Gegensatz zum Ego tritt das höhere Ich also nicht von selbst ins Bewusstsein. Es muss gesucht, ins Auge gefasst und willentlich hervorgebracht werden. Das Ich ist seinem Wesen nach ein Agens, eine treibende Kraft, ein Automobil, das heißt ein Selbst-Beweger. Ein Ich, das von außen geschoben oder gezogen werden müsste, ist noch keines. Es ist nur insofern ein unabhängiges „Ich”, als es sich von innen heraus selber aktiv im Denken ergreift, in Bewegung setzt und sich selbst bestimmt. Darin liegt aber auch der Grund dafür, dass das höhere Ich immer nur von verhältnismäßig wenigen Menschen bewusst angestrebt und zu realisieren gesucht wurde und wird. Die Philosophen des deutschen Idealismus, insbesondere Fichte, haben einen sehr anspruchsvollen gedanklichen Weg dazu aufgezeigt.
Rudolf Steiner wies auf einen einfacheren, unmittelbar lebenspraktischen Weg hin, den er als elementaren Bestandteil einer höheren Erkenntnisschulung beschrieb. 3
Er empfiehlt, sich täglich Augenblicke innerer Ruhe zu verschaffen, in denen man sich eine kurze Zeit aus seinem täglichen Leben zurückzieht und all seine Freuden, Leiden, Sorgen, Erfahrungen und Taten vor seiner Seele vorbeiziehen lässt, aber so, dass man sie von einem höheren Gesichtspunkt aus betrachtet, als ob man sie nicht selbst, sondern ein anderer erlebt oder getan hätte. „Man soll in diesen Zeiten die Kraft suchen, sich selbst wie ein Fremder gegenüberzustehen. Dann ist man nicht mehr so eng mit den eigenen Erlebnissen verwoben, und sie zeigen sich in einem neuen Licht. Das Wesentliche beginnt sich von dem Unwesentlichen zu sondern.” 3
» Siehe auch die Übungen Nach.Gedacht
Man zieht sich dadurch aus der emotionalen Egozentrik des niederen Ichs allmählich heraus, so dass sich immer mehr höhere Gesichtspunkte für die Beurteilung der Dinge einstellen können. Dabei kommt alles darauf an, „dass man energisch, mit innerer Wahrheit und rückhaltloser Aufrichtigkeit sich selbst, mit all seinen Handlungen und Taten, als ein völlig Fremder gegenüber stehen kann.“ 3
Das bedeutet, dass das höhere Ich mehr und mehr Einfluss auf das Alltags-Ego geltend machen kann. „Denn jeder Mensch trägt neben seinem – wir wollen ihn so nennen – Alltagsmenschen in seinem Innern noch einen höheren Menschen. Dieser höhere Mensch bleibt so lange verborgen, bis er geweckt wird. Und jeder kann diesen höheren Menschen nur selbst in sich erwecken.“ 3
Dieses in den ausgesonderten Augenblicken der inneren Ruhe gewonnene „höhere Leben“ wird nach und nach seinen Einfluss auch auf das gewöhnliche Alltagsleben ausüben. Man wird ruhiger werden, mehr Sicherheit in seinen Handlungen gewinnen und nicht mehr leicht aus der Fassung gebracht werden können. Man ärgert sich nicht mehr über alle möglichen Dinge, und andere hören auf, einem Befürchtungen zu machen. Man wird sich immer mehr innerlich selbst lenken und weniger von den Umständen und äußeren Einflüssen gelenkt werden.
So fängt man an, „sein Lebensschiff einen sicheren, festen Gang zu führen innerhalb der Wogen des Lebens. Während es vorher von diesen Wogen hin und her geschlagen worden ist.“ 3
Das höhere Ich ist in einem fortwährenden Drängen nach Entwicklung begriffen, dass sich gegen alle Widerstände und Niederlagen im Gewissen, in Sehnsüchten, Träumen und Idealen bemerkbar zu machen sucht. Dadurch, dass man sich regelmäßig kurze Zeiten der beschriebenen inneren Ruhe verschafft, wird dem höheren Menschen in uns eine gesetzmäßige Entwicklung ermöglicht, in deren Verlauf er über das Alltags-Ich immer mehr die Oberhand gewinnt und dieses allmählich in Übereinstimmung mit sich bringen kann.1
„Dieser «höhere Mensch» wird dann der «innere Herrscher», der mit sicherer Hand die Verhältnisse des äußeren Menschen führt. Solange der äußere Mensch die Oberhand und Leitung hat, ist dieser «innere» sein Sklave und kann daher seine Kräfte nicht entfalten. Hängt es von etwas anderem als von mir ab, ob ich mich ärgere oder nicht, so bin ich nicht Herr meiner selbst, oder – noch besser gesagt -: „ich habe den «Herrscher in mir» noch nicht gefunden.“ 3
Perspektiven für die innere Entwicklung
Darin, dass die Ich-Entwicklung der inneren Anstrengung und Aktivität des Ichs selbst bedarf, liegt aber nun die Ursache, warum sie von vielen nur schwach angestrebt wird. „Aber die Sehnsucht nach dem Höheren lebt in jedem, wenn auch noch so verborgen; und kann er es in seinem Inneren nicht finden, so scheint es ihm stattdessen von außen entgegenzukommen.”
„Die innere Herrschaft des Ichs im einzelnen Menschen verwandelt sich in die äußere Herrschaft des reinen Materialismus.” 4
Der Mensch bleibt im Alltags-Ich stecken, welches an die äußeren Verhältnisse gebunden und in unserer heutigen Gesellschaft sehr stark verankert ist. Wir sind es gewohnt, in unserem sogenannten „Alltags-Ich” zu leben. Das andere ist den meisten von uns heute gänzlich unbekannt.
Es kommt also darauf an, den Herrscher in uns, das heißt die Herrschaft des höheren Ich, über das niedere zur Entwicklung zu bringen. Das niedere Ich hängt im reinen Materialismus fest, in Ängsten, Sorgen und der Bequemlichkeit. Das höhere Ich möchte unser wahres Potential zum Leben erwecken und bedeutet fortwährende Entwicklung. Das aber zu entwickeln, bedarf Arbeit an sich selbst und dafür braucht es heute einen starken Willen und Phasen der Stille und Ruhe um sein Denken, Fühlen und Handeln zu reflektieren. Aus freiem Willen heraus darf sich jeder seinem höheren Selbst zuwenden. Tun wir es nicht, droht der Einzelne, aber auch wir als Gesellschaft, im niederen Selbst – unserem Ego – stecken zu bleiben. Sich in seinem Denken, Fühlen und Wollen zu beobachten und zu reflektieren, ist heute unsere wichtigste Aufgabe. Immer, wenn wir in Sorge, Ängsten, Antipathie oder Sympathie hängen, sind wir im Ego, das heißt im niederen Selbst gefangen. Unser höheres Selbst ist frei von all dem.
Definition der Begriffe
Ego: Selbstsucht, Ichsucht, Eigenliebe, zeigt sich in Form von Ängsten, Sorgen, Wut, Hass.
Über-Ich: Durch die Erziehung und die Umwelt regulierende Instanz der Persönlichkeit.
Ich: Der tiefste Wesenskern im Menschen welcher der inneren Weiterentwicklung entgegen strebt.
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Eine schöne Initiative, diese Website, die ich entdeckte beim Suchen nach Schillers Wort: Jeder Mensch trägt einen höheren Menschen in sich….
Beste Grüße!
Christiaan Struelens
Pfarrer in der Christengemeinschaft
Münster/Westfalen