Führung neu denken
Das Team rückt in den Vordergrund
Dass es eine neue Form der Führung braucht, davon ist Hans A. Wüthrich, Professor für Internationales Management und Dozent an zwei Universitäten, nach langjährigen Forschungen überzeugt. Das alte Modell sei überholt und könne mit der heutigen, schnelllebigen Zeit nicht mehr Schritt halten. Ein Interview mit ihm gibt Impulse und Anregungen, selbst weiterzudenken und für eine Organisation das „Ideal“ zu definieren.
Wie kann eine neue Art der Führung aussehen, die heute noch in keinem Lehrbuch steht? Sie basiert auf einem zutiefst menschlichen Miteinander: dem gemeinsamen Experimentieren. Sie basiert auf einer guten Fehlerkultur: Sie lässt von alten Gewohnheiten los und legt auch mal den Perfektionismus beiseite. Jeder kennt das Ziel – die gemeinsame Vision – der Weg zeigt sich beim Gehen.
Dazu braucht es Menschen, die sich in einem solchen Umfeld wohl fühlen und immer mehr dort hinein wachsen. Die häufig vorherrschenden Führungsmodelle beruhen darauf, dass die Chefs immer alles zu wissen haben. Das wurde uns so gelehrt und vorgelebt. Die gelebte Hierarchie verankert sich dann in den Köpfen. Auch möchte man meinen, Chefs kennen keine Angst oder Unsicherheiten. Doch so ist es nicht überall. Die Erfahrung und die Forschung zeigen uns, dass kollektives Wissen wesentlich mehr weiß, als ein Einzelner je wissen kann. In der neuen Führungsrolle schafft die Führungskraft den Rahmen, damit im Kollektiv Neues entstehen kann. Die Führungspersönlichkeit gibt die Vision und das zu erreichende Ziel vor, nicht aber den Weg dorthin. Dieser wird aus dem Team heraus entwickelt.
Erkenntnisse aus der Praxis
In einem überaus spannenden Interview mit Hans A. Wüthrich erfahren die Hörer, dass ein übergreifendes Denken zu völlig neuen Ansätzen führt. Ob in Organisationen oder in einer modernen Städteplanung wie in Curitiba, einer Großstadt mit rund 1,9 Millionen Einwohnern im Südosten Brasiliens – überall kann die kollektive Intelligenz sinnvoll genutzt werden. Hans A. Wüthrich gibt dafür zahlreiche inspirierende Beispiele. So haben in einer Organisation die Führungskräfte der obersten Hierarchie für sechs Monate ihre Rollen komplett getauscht. Der Leiter des Controllings wechselte beispielsweise ins Marketing. Das hatte zur Folge, dass nicht mehr über die reine fachliche Kompetenz geführt werden konnte. Die Führungskräfte mussten ausschließlich über Fragen führen und die eigene Persönlichkeit einbringen. Am Ende des Experiments hatte es dazu geführt, dass die Mitarbeiter in den Teams ihre erarbeitete „Freiheit und Selbstverantwortung“ beibehalten wollten und die Führungskraft sich in der Rolle neu finden durfte. Der wesentliche Unterschied zur heute meist vorherrschenden Führungskultur ist, dass eine Führungskraft der neuen Zeit lediglich den Rahmen für die Entscheidungsprozesse vorgeben und selbst immer weniger Entscheidungen allein treffen sollte.
Prof. Hans A. Wüthrich
Inhaber des Lehrstuhls für Internationales Management an der Universität der Bundeswehr München und Privatdozent an der Universität St. Gallen.
Wie schaut das Organisationsmodell der Zukunft aus?
Das klassische Organisationsmodell hat nach der Meinung von Hans A. Wüthrich heute ausgedient. Jede Führungskraft sollte sich folgende Fragen stellen: „Weshalb haben wir die Organisationsstruktur, die wir haben? Wozu dient sie und was wird dadurch verhindert?“ Man darf sich ins Bewusstsein rufen, dass jede gelebte Hierarchiestufe Entscheidungsprozesse verlangsamt. Entscheidungen werden von einer Person mit ihrem persönlichen Blickwinkel, den darauf basierenden Annahmen sowie Vorprägungen getroffen. Gleichzeitig wird die kollektive Intelligenz im Team heruntergeschraubt, denn das Team kann sich darauf verlassen, dass es „oben“ jemanden gibt, der entscheidet. Das führt häufig dazu, dass viele Arbeitnehmer nicht mehr wirklich mitdenken und Entscheidungen nicht mehr hinterfragt werden. Die Mitarbeiter geben die Verantwortung an den Vorgesetzten ab. Dieser nimmt sie dankbar an, denn darin, so meint er, liege seine Berechtigung. Die
neue Art der Zusammenarbeit schließt das gerade aus. Hier wird gemeinsam nach der besten Lösung gesucht. Die Mitarbeiter sind ein Teil des ganzen Prozesses. Für diese innovative Art der Führung gibt es keine vorgefertigten Methoden, denn so vielfältig wie die Organisationen sind, so vielfältig sind auch die zu definierenden Entscheidungsprozesse und damit einhergehend die optimale Struktur für jede Organisation.
Weiter dürfe jede Organisation ihr Ideal für sich entwickeln und sich dann selbst auf den Weg begeben, reflektieren und anpassen. Ganz im Sinne der ersten Metakompetenz.
Vor den aufkeimenden, neuen Methoden wie VUCA oder Holacracy, um nur zwei zu nennen, warnt Hans A. Wüthrich, da hier auf einer anderen Ebene ein Ideal definiert wird, was aber nicht für jede Organisation passt.
Hans A. Wüthrich spricht von drei Metakompetenzen, die als Basis entwickelt werden sollten.
- Metakompetenz
weg von perfekten Lösungen, hin zu viablen Lösungen - Metakompetenz
Fähigkeit zur Mobilisierung der dezentralen Intelligenz entwickeln - Metakompetenz
organisationale Resilienz aufbauen – Organisationen so ausstatten, dass sie mit Störungen intelligent umgehen lernen
Chancen für Morgen
Heute gelte es ein Bewusstsein zu entwickeln, welche Vor- und Nachteile durch die jeweils vorherrschende Organisationsform und das gemeinsame Miteinander entstehen. Dann gelte es, die Vision für die Organisation zu entwickeln, um resilient auf die Einflüsse von außen und innen als ganze Organisation reagieren zu können. Standardisierte Management-Methoden haben dabei ausgedient. Ein Blick auf andere Organisationen darf sein, eine exakte Kopie jedoch wäre wenig sinnvoll. Denn jede Organisation entwickelt ihr eigenes Ideal und richtet die Personalentwicklung auf dieses Ideal aus. Sicherheit in der Unsicherheit zu entwickeln, das wird eine der Kernkompetenzen für Führungspersönlichkeiten von morgen sein. Auch ein permanentes Hinterfragen und Reflektieren des eigenen Denkens und Handelns wird notwendig sein, denn nur so kann Wachstum entstehen und schnell gegengesteuert werden.
Vision und Mut
Die neue Art der Führung braucht Mut und Freude am Experimentieren – was heute häufig noch etwas ganz Ungewohntes im Bereich der Organisationsentwicklung darstellt. Deshalb bleibt in vielen Fällen meist alles beim Alten. Unsere aktuelle gesellschaftliche Situation zeigt uns, dass auch auf der Ebene der Organisationen vieles neu gedacht werden darf.Wir vom Lebens.Werte-Management-Team wollen Unternehmen Mut machen, jetzt loszulegen, zunächst einmal außerhalb der Komfortzone zu denken und später in gangbaren Schritten in die Handlung zu kommen.
Hier geht es zum Interview…
Um die Hintergründe zu verstehen, eignet sich der Artikel über lebendiges Denken in unserer Ausgabe 01/21. (tl)
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