Holacracy
Die Organisationsstruktur ohne Hierarchie?
Für die steigende Komplexität in Unternehmen wird vom Management nach Lösungen gesucht. In vielen Unternehmen wird erkannt, dass die bestehenden Formen der Zusammenarbeit den steigenden Anforderungen nicht mehr gewachsen sind und es einer Anpassung der Strukturen und Prozesse bedarf. Sollen die Entscheidungswege doch möglichst kurz und effizient sein. Welche Organisationsveränderungen sind sinnvoll und zielführend und wie aufwendig ist ein Umstieg? Wir haben mit zwei Unternehmern gesprochen, die Holacracy anwenden. Eine Unternehmung ist von einer klassischen hierarchischen Struktur umgestiegen und eine andere Unternehmung ist mit Holacracy gestartet. Beide haben mit uns ihre Erfahrung ausgetauscht.
Im nachfolgenden Text erläutern wir kurz wichtige Eckpunkte von Holacracy, für alle, die sich noch nicht so intensiv mit diesem Modell auseinandergesetzt haben. Im Anschluss geben wir Einblick in zwei Praxisbeispiele und deren Erfahrungen bei der Einführung und im Alltag mit Holacracy.
Die Idee von Holacracy ist, klassische Positionen und Stellenbeschreibungen aufzulösen und sie durch dynamische Rollen zu ersetzen. Dies gilt auch für klassische Unternehmensbereiche, die durch sogenannte Kreise abgelöst werden. Traditionelle Unternehmen setzen auf Stellenbeschreibungen und festen Positionen im Unternehmen. Hierbei besetzt man als Mitarbeiter über einen längeren Zeitraum die gleiche Position, die sehr oft auch mit den gleichen Aufgabeninhalten verbunden ist.
Im Holacracy Modell gibt es stattdessen dynamische Rollen, die natürlich auch Lage, diese Rolle wieder nach definiert werden müssen. Diese sind ten Regeln abzulegen und eine neue meist durch ein zu erreichendes Ziel, Rolle zu übernehmen, dies ist anders Verantwortlichkeiten und/oder durch als bei hierarchischen Strukturen. sogenannte Domänen definiert. Domänen sind hier die Verantwortungsbereiche, über die der Domäneninhaber die Kontrolle hat, ähnlich Prozessverantwortlicher. Eine Domäne kann beispielsweise ein Projekt, ein Dokument oder eine Webseite sein, über die der Domäneninhaber die Verantwortung trägt. Veränderungen dürfen demnach nur wahrgenommen werden, wenn dies in Absprache mit dem Domäneninhaber erfolgt.
Wichtig bei den Rollen ist, dass diese nicht immer von derselben Person besetzt sein müssen. Hier differenziert das Regelwerk von Holacracy stark zwischen Rolle und Mensch. Ein Mensch kann eine Rolle für eine Zeit lang besetzen, ist jedoch auch in der Lage, diese Rolle wieder nach definierten Regeln abzulegen und eine neue Rolle zu übernehmen, dies ist anders als bei hierarchischen Strukturen.
Einer der Hauptgründe, weshalb Holacracy in Organisationen eingeführt wird, ist das Mehr an Transparenz bei den Mitarbeitenden sowie die schnelle Entscheidungsfindung für anstehende Aufgaben und Herausforderungen. Jeder ist über das Ergebnis informiert und arbeitet aktiv an der Gestaltung des Miteinanders mit.
Das Modell von Holacracy ist sehr fokussiert auf das Erreichen von Zielen und unterteilt das Unternehmen nicht in Bereiche wie Marketing, Finanzen, etc. sondern in verschiedene Projekte und Teams. Durch das Set an Regeln und die neue Struktur im Unternehmen ergeben sich einige Vorteile, sowohl für Mitarbeiter als auch die Führungsinstanzen. Für Holacracy gibt es eine eigene Sprache, dies ist gerade zu Beginn wichtig, dass man mit klaren und eindeutigen Begrifflichkeiten arbeitet.
Was war die Motivation der Firmen „Freitag“ und „soulbottles“ auf dieses Modell der Unternehmensorganisation zu greifen und wie sieht es in der Realität aus.
Blick hinter die Kulissen: Firma Freitag
Die Firma Freitag produziert unter anderem Taschen und Wegbegleiter aus gebrauchten LKW-Planen. Das Unternehmen gibt es bereits seit 1993 und alles begann in einer kleinen Wohngemeinschaft in Zürich mit einer Nähmaschine in der Küche und die Badewanne, die als Wäscherei diente. So entstand die erste Tasche. Heute ist Freitag weltweit bekannt und steht für Innovationskraft, Kreativität und Umweltbewusstsein. Durch das rasche Wachstum mussten Strukturen geschaffen werden. Zunächst ging das Unternehmen den bekannten Weg der klassischen Strukturen mit Stellenbeschreibungen etc.
Nach und nach stellten sie jedoch fest – auch weil sie die Menschen anders erlebt hatten – dass sich Unzufriedenheit breit machte, der Spaß ein wenig verloren ging und viele auch nicht mehr so kreativ und mit Freude bei der Arbeit waren. Ein Punkt, der ihnen auffiel, war, dass sie durch die geschaffenen Strukturen, die Agilität verloren hatten, Ideen schnell und spontan in die Umsetzung zu bringen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sie noch nichts von Holacracy gehört. In Meetings und mit externer Unterstützung dachten sie ihre Organisation als eine Dorfgemeinschaft und schauten, was innerhalb der Gemeinschaft benötigt wird, aber auch von Seiten der Kunden und Lieferanten. Durch dieses Bild wurde der Fokus wieder mehr daraufgelegt, Dienstleister auch innerhalb der Organisation zu sein.
Ein Fokus, der häufig in der klassischen Pyramide oder einer Matrixorganisation in Vergessenheit gerät. Freitag richtete den Fokus wieder mehr auf das große Ganze, auf ihre Vision aus. Es war ein intensiver Prozess sich mit einem neuen Modell auseinanderzusetzen. Mehr durch Zufall entdeckte man dann das Modell von Holacracy, was einen der Inhaber gleich begeisterte. So kam es, dass Freitag umstieg. Sie hatten den Vorteil, dass sie sich vorher schon intensiv mit der Organisation auseinandergesetzt hatten, aber auch die Wurzeln ihrer früheren Agilität noch in sich trugen, die sie antrieb. Diese Form der Zusammenarbeit, die zu Beginn in einem Start-up geherrscht hat, jetzt auch in einer Organisation mit mehr als 200 Mitarbeitern umzusetzen, war und ist die große Herausforderung.
Gemeinsam treffen sie sich regelmäßig mit anderen Schweizer Organisationen, die sich auch auf den Weg gemacht haben, Holacracy einzusetzen und besprechen Dinge, die der eine oder andere bereits ausprobiert hat und lernen voneinander.
Blick hinter die Kulissen: Firma soulbottles
Bei der Firma soulbottles lief es etwas anders. Zwei Freunde – Georg Tarne und Paul Kupfer – gründeten 2012 direkt nach dem Studium die Firma als soziales Unternehmen. Bis 2020 wuchsen sie auf 75 Mitarbeiter an, aufgrund der Krise wurde die Mitarbeiterzahl auf 35 verkleinert. Sie hatten ein Ideal und sie wollten nach dem Film – the green planet – daran mitwirken, die Erde plastikfreier und etwas lebenswerter zu machen.
Mehr oder weniger durch Zufall fingen sie an, leere Bierflaschen und Spirituosenflaschen schön zu gestalten – heute produzieren sie wiederverwendbare und komplett plastikfreie Trinkflaschen zum Mitnehmen. Ihre Intention dahinter ist, dass sie mit dem Gewinn soziale Projekt fördern wollen, die sich zum einen dem Thema weniger Plastik in der Umwelt widmen, aber in noch viel größerem Maße, dass sie Trinkwasserprojekte fördern, damit jeder Mensch Zugang zu sauberem Trinkwasser hat.
Sie wollten dafür kein NGO gründen oder abhängig von Spendengeldern sein, sondern es über Verkauf von sinnvollen Produkten erreichen. Die Unternehmensstruktur war auch schnell klar, da sie nicht in klassischen Hierarchien arbeiten wollten. Das konnten sich beide nicht vorstellen. So war Holacracy gesetzt und während des Studiums kamen sie auch mit der gewaltfreien Kommunikation von Marshall Rosenberg in Berührung. Georg Tarne absolvierte die Ausbildung zur gewaltfreien Kommunikation.
Das Modell von Holacracy und die gewaltfreie Kommunikation bilden heute die Grundpfeiler bei soulbottles. So erhält jeder neue Mitarbeiter eine 2-tägige Basisschulung in gewaltfreier Kommunikation. Laut Paul Kupfer ein wesentlicher Punkt, warum es auch so gut zwischen ihm und seinem Freund und Geschäftspartner funktioniert.
Jeder, der die Grundzüge der gewaltfreien Kommunikation kennt und einsetzt, merkt, dass sich dadurch die Kommunikation ganz anders gestalten lässt.
Soulbottles hat die Begriffe von Holacracy in eine eigene Sprache übersetzt und verwendet nicht die Bezeichnungen, die das ursprüngliche Modell von Holacracy vorsieht. Hier wurde die Erfahrung gemacht, dass manche Begrifflichkeiten schwer verständlich sind, beziehungsweise auch manchmal zu Irritationen geführt haben, das wollte man vermeiden.
soulbottles geht auch in Sachen Transparenz noch weiter und veröffentlicht die Gehälter. Jeder kann sie einsehen. Bei der Einstellung hat man die Möglichkeit, dem zuzustimmen oder eben nicht. Es gibt eine klare Gehaltsstruktur mit sieben Stufen je nach Verantwortungsübernahme und Können. Entsprechend steigt man in die dafür vorgesehene Stufe ein. Die Gehaltsstruktur ist somit klar und transparent geregelt. Das Modell von Holacracy bewirkt auch, dass Mitarbeiter erst mehr Verantwortung übernehmen und zeigen, ob sie den neuen Herausforderungen gewachsen sind und nach einer gewissen Zeit wird nach einem Wechsel in eine höhere Gehaltsstufe gefragt. Dies ist bei den klassischen Organisationsstrukturen meist nicht der Fall. Da läuft es genau umgekehrt, erst ist es der Job mit mehr Gehalt und im Nachhinein wird gezeigt, ob das Vertrauen gerechtfertigt ist.
Im Laufe der Jahre hat soulbottles die Erfahrung gemacht, dass diese Organisationsform nicht für jeden Menschen geeignet ist. Nicht jeder fühlt sich in wechselnden Rollen wohl und auch für Menschen, die durch ihren Titel und Anzahl der geführten Mitarbeiter ihr Ego aufpolieren möchten, ist so eine Organisationsform ungeeignet. Aber auch das Gegenteil war der Fall: Mitarbeiter, die sich mit sich auseinandersetzen mussten, haben dadurch zu sich selbst gefunden. Sie haben sich in dem Umfeld zugetraut, ihre wahre Persönlichkeit zu leben und nicht nur einen Teil. Ein wesentlicher Aspekt von Holacracy ist, dass man sich und sein Verhalten immer wieder reflektiert und gemeinsam als Unternehmensgemeinschaft wächst.
Fazit
In vielen hierarchisch organisierten Unternehmen ist in den Köpfen der Mitarbeiter die Führungskraft die Ebene der Entscheidungsgewalt. Dies müsste nicht so sein. Es wird nur so gelebt, weil es so gedacht wird und weil man nur die eine Erfahrung gemacht hat. Auch hier kann völlig neu gedacht werden und einige Teile aus Holacracy können mit Sicherheit auch in hierarchischen Organisationen Einzug halten.
Besonders die positiven zwischenmenschlichen Themen und Dynamiken könnten übernommen werden. Dies findet zwar häufig in der Personalentwicklung schon statt, aber in der Realität ändern sich Menschen meist nur unter Druck und nur wenige Unternehmen agieren in dieser Richtung wirklich konsequent. Wenn weniger Ego in der Zusammenarbeit herrschen würde und jeder sich und sein Verhalten anfangen würde zu reflektieren,
könnten viel Reibungsverluste vermieden werden. Es braucht dazu jedoch die Entwicklung eines neuen Selbstverständnisses im Miteinander, damit Probleme dort gelöst werden, wo sie entstehen und die dafür erforderlichen Entscheidungen getroffen werden dürfen. Unternehmensleitung und Führungskräfte geben dann den Rahmen, damit sich Mitarbeiter bestmöglich entwickeln und sich einbringen können.
Eine wesentliche Voraussetzung ist es, Menschen in Führungsverantwortung auszuwählen, die Freude im Umgang mit Menschen haben und weniger die Fachexperten sind. Führungskräfte, die Vertrauen schenken können und wollen. Führungskräfte, die den Mut und die Souveränität besitzen auch mal gegenüber ihren Mitarbeitern zu sagen „Das weiß ich jetzt nicht“. Fragen durch Führen wäre die Devise, die gelernt werden sollte, anstatt zu glauben, immer gleich Antworten parat haben zu müssen. Dazu braucht es ein hohes Maß an Selbsterkenntnis, Selbstvertrauen, Selbstsicherheit und Selbstbewusstsein und dies erlernt man nur durch gute und professionelle Selbstreflexionsprozesse.
Alles beginnt mit einem Hinterfragen der eigenen Organisationsstruktur. Warum haben wir die Organisationsform, wie wir sie haben? Welche Vor- und Nachteile bringt sie mit sich? Was kann sich darin entwickeln und was wird dadurch verhindert? Diese und ähnliche Fragen sollte sich jede Organisation stellen, egal welche Form sie gewählt hat oder zukünftig wählt.
Die Erfahrung zeigt, wenn nicht die oberste Führungsriege ein klares Commitment abgibt und hinter einer derartigen Organisationsweiterentwicklung steht, dann funktioniert es nicht. Das mittlere Management ist von diesen Veränderungen am meisten betroffen, da es gilt Gewohnheiten und Überzeugungen loszulassen. Zu Beginn sind dort die größten Widerstände zu erwarten, da sich die Vorzüge erst zu einem späteren Zeitpunkt für die Führungskräfte zeigen.
Holacracy stellt nicht nur eine andere Form der Zusammenarbeit dar, sondern es herrscht ein anderes Menschenbild vor. Wenn dies bei den Beteiligten und Betroffenen nicht aus intrinsischer Motivation vorhanden ist, muss man hier zuerst ansetzen, da sonst derartige Projekte scheitern. (tl)
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