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Raus aus alten Schuhen
Vor mehr als sieben Jahren haben sich eine Handvoll Lehrer vom Hans-Mutschler- Gymnasium – kurz HMG – in Leutkirch in Baden-Württemberg auf den Weg gemacht, eine neue Form des Unterrichts und des Lernens zu entwickeln. Sie wollten, dass Schule den Kindern wieder Freude macht und die Lehrer nicht so an die Belastungsgrenzen geraten. Das Besondere daran ist, das HMG ist eine staatliche Schule.
Den Ausschlag für dieses innovative Projekt gab die Tatsache, dass immer mehr Lehrer spätestens am Ende des Schuljahres ausgebrannt die Ferien herbeisehnten. Die Rhetorik, die Art der Wissensvermittlung, machte vielen Lehrern und Schülern einfach keinen Spaß mehr. Es wurde damit begonnen, nach immer ausgefeilteren Möglichkeiten zu suchen.
Zum Beispiel nach neuen Geschichten, um den Lehrstoff in noch einfacherer und verständlicherer Form zu vermitteln. Dies nahm einen wesentlichen Teil des Lehrerdaseins ein und doch führte dies nicht zu einer ausreichend zufriedenstellenden Verbesserung bei den Leistungen der Kinder. So stellten sich ein paar Lehrer aus dem Kollegium die Frage: „Wie kann Schule wieder Spaß machen, und zwar für Schüler und Lehrer?“
Es gab viele Vorbilder, meist von freien Schulen oder von Schulen, die sich aus wirtschaftlichen Gründen neue Wege überlegen mussten. Staatliche
Schulen gab es zu diesem Zeitpunkt nur ganz wenige, die als Vorbild dienen konnten. Das HMG hatte auch kein geeignetes Pädagogik-Konzept vorliegen, wie es zum Beispiel bei Montessori- oder Rudolf-Steiner- Schulen existiert. Das HMG ging dieses Projekt rein aus der eigenen Motivation und nicht aus wirtschaftlicher Not an.
Der Weg
Von Beginn an war ein fester Kern aus dem Lehrerkollegium, der Direktor sowie Schüler und Elternvertreter im Projektteam mit vertreten. Es wurden verschiedene Schulen besucht, in denen das Thema „neue Lernformen“ angewandt wurde.
Die Frage war, welches Lern-Konzept beziehungsweise welche Lernlandschaft passt am besten zum HMG, denn dieses Gymnasium ist, wie bereits eingangs erwähnt, eine staatliche Schule. Die Reise dauerte lange und verlangte allen Beteiligten und Betroffenen viel Durchhaltevermögen ab. Ganze sieben Jahre vergingen vom ersten Gedanken bis zum Pilot-Projekt. Unter anderem war es dem geschuldet, dass die Lehrer dieses Projekt neben ihrer normalen Tätigkeit
durchführten.
Die Vorgehensweise
Es bildete sich rasch ein harter Kern, der die Idee verfolgte, und es wurden verschiedene Konzepte von freien Schulen angesehen, es wurde viel diskutiert und theoretisch durchgespielt. Denn neue Lernkonzepte beinhalten auch immer eine räumliche Veränderung, neue Lehrmaterialien sowie eine
neue Art der Unterrichtsvorbereitung. Dies musste gut durchdacht und auch finanziert werden.
Von Seiten der Landesregierung war hier nichts zu erwarten und leider ist dies auch bis zum heutigen Tage so. Ohne die Hilfe von Unternehmen aus der Region wäre das Projekt so nicht möglich gewesen. Vor sieben Jahren war es dann soweit, der Campus für die fünften Klassen war fertig und es konnte gestartet werden.
Das Lernkonzept
Das Lernkonzept basiert auf drei Säulen:
1. Säule: Steigerung des Lern-Bewusstseins
Das Ziel liegt darauf, die Eigenverantwortung sowie die Individualisierung der Kinder zu fördern und zu unterstützen. Jedes Kind lernt in unterschiedlichen Geschwindigkeiten und dies findet in diesem Konzept Berücksichtigung. Die Kinder haben auch die Möglichkeit, gemeinsam mit einem Tutor ihre Lernentwicklung selbständig zu planen. Und zusätzlich gibt es fächerübergreifendes Arbeiten, wodurch persönliche Schwerpunkte gesetzt werden können, damit die Lehrer die Kinder gezielter fördern und fordern können.
2. Säule: Die Lern-Begleitung
Es gibt für Schüler, Eltern und Lehrer eine feste Struktur des Austausches, der regelmäßig und zu fest vereinbarten Zeitpunkten stattfindet. Jeder Schüler hat einen Tutor an seiner Seite, dieser ist Ansprechpartner für alle schulischen Belange und die Zielfindung für die anstehenden Lernziele. Die Begleitung durch einen Tutor findet über einen längeren Zeitraum statt.
3. Säule: Die Lern-Umgebung
Eine Klassenstufe mit mehreren Klassen je Jahrgang hat ein gemeinsames Stockwerk, dieser Bereich gliedert sich in Lernräume und in eine gemeinsam genutzte offene Lern-Landschaft. Der Unterricht wechselt zwischen individuellem Lernen in der offenen Lern-Landschaft sowie dem Unterricht im Klassenverband ab. Es gibt bei den vier Klassenräumen keine Türen. Die Eingänge in die Räume sind so gestaltet, dass der Lärm vom individuellem Lernraum abgeschirmt wird. Gleichzeitig fördert dies aber auch die gegenseitige Rücksichtnahme. Es gibt in jedem Klassenraum große Glasfronten in Richtung der individuellen Lern-Umgebung. Das war gerade für klassische Lehrer neu und ungewohnt, fand doch bisher der Unterricht hinter geschlossenen Türen statt. Jetzt kann jeder von außen auch zusehen. Die Klassenräume können von den jeweiligenKlassen selbst gestaltet werden. Selbstverständlich finden sich in jedem Klassenraum auch die heute gängigen digitalen und analogen Medien, die zur kreativen Wissensvermittlung notwendig sind.
Wo steht das HMG heute
Das neue Lernkonzept ist heute bis zur neunten Klasse ausgerollt. Die Herausforderungen, die sich im Laufe der Zeit heraus kristallisiert haben, liegen jetzt weniger im Lernkonzept, als vielmehr darin, dass sich Lehrer nun mit ganz anderen Themen beschäftigen müssen und eine völlig neue und geänderte Rolle einnehmen. Es bedarf eines kompletten Kultur- und Wertewandels. Dadurch, dass die Lehrer sich intensiver mit den einzelnen Schülern auseinandersetzen, bekommen sie wesentlich mehr von den Kindern und deren Umfeld mit. Darauf werden Lehrer während ihres Studiums nicht vorbereitet. In den höheren Klassen werden Lehrer zu Fachexperten ausgebildet. Manche Lehrer finden sich nur schwer in die neue Rolle hinein, hier braucht es viel Überzeugungskraft, denn in staatlichen Schulen sind die Lehrer überwiegend verbeamtet. Nicht immer ist dies eine leichte Aufgabe, diese Lehrer abzuholen und in das neue System zu integrieren. In den nächsten Monaten liegt der Hauptfokus bei der Persönlichkeitsentwicklung sowie der Erhöhung der Reflexionsfähigkeit der Lehrer, denn es ist essenziell, dass sich jeder, der die Kinder auf ihrem Entwicklungsweg begleitet, mit sich selbst und auch mit den Wachstumsphasen der Kinder auseinandersetzt. Der Pädagoge muss erkennen, wie die Kinder individuell gefördert werden können. Bisher fand das durch interne Reflexionsrunden statt.
Aber da man erkannt hat, dass Lehrer jetzt wesentlich tiefere Einblicke in das Leben der Kinder bekommen, braucht es mehr, was im Zuge einer kollegialen Beratung nicht mehr geleistet werden kann. Deshalb benötigt es dafür externe Unterstützung und das bei knappem Budget, denn es gibt kein zusätzliches Geld für den neuen und erfolgreichen Ansatz.
Fazit
Die Kinder und Jugendlichen des HMG´s begrüßen das neue Konzept, da es mehr ihrer Wesensentwicklung entspricht. Es hat zu mehr Freude beim Lernen geführt und damit auch zur Leistungsverbesserung beigetragen. Dies ist ein Beispiel, wie durch viel Eigenleistung und Engagement im Beruf eine neue Lern-Kultur entstehen kann und was innerhalb staatlicher Grenzen möglich ist, denn das „WAS“, also die Lernziele, sind vorgegeben, aber das „WIE“, die Wissensvermittlung, kann doch jede Schule für sich selbst definieren. Es bedarf eines komplett neuen Denkens für die Schule von Morgen, damit solche Konzepte flächendeckend eingeführt werden können, denn die heutigen Schüler sind die Manager von Morgen. (tl)
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