Zur Geschichte der Psycho-Physiognomik
Teil 1
Der Begriff Physiognomik stammt aus dem Griechischen und bedeutet “Wissen aus der Natur, der Erscheinung”. Seit Urzeiten ist die Physiognomik als wissenschaftliches Diagnose-Instrument bekannt. Ganz allgemein gesprochen erkennt und beschreibt sie Formen, die uns Rückschlüsse auf ein bestimmtes Objekt geben, Rückschlüsse auf dessen Beschaffenheit, Eigenschaften und Nutzungsmöglichkeit, den Inhalt oder die Energien. Wir können beispielsweise anhand der Form eine Rose von einer Tulpe unterscheiden, eine frische Blüte von einer welken Blüte.
Ein Gastbeitrag von Erika Rau
In der Medizin war die Physiognomik über viele Jahrhunderte eine wichtige Teildisziplin. Auf den Menschen bezogen erweiterte Carl Huter (1861—1912) diese Formensprache mit dem Zusatz „Psycho-Physiognomik“. Wir können aufgrund von Körper- und Gesichtsformen auf Charaktereigenschaften des Menschen schließen, auf seine Anlagen, Begabungen und Potenziale. Wir alle tun dies ständig, wenn uns jemand Fremdes begegnet, indem wir unser Gegenüber einordnen, beispielsweise in Mann oder Frau, bekannt oder unbekannt, gut oder böse, attraktiv oder unattraktiv. Dieser Prozess ist automatisiert und gleicht Erfahrungen aus unserem Leben mit der jetzigen Situation ab. Unbewusst beurteilen wir unser Gegenüber somit ständig aufgrund unserer Erfahrungen und Prägungen. Diese Prägungen sind aber nicht immer richtig und manchmal ist es nötig, unseren ersten Eindruck zu revidieren.
Mit dem Lehrmodell der Psycho-Physiognomik ist es möglich, den persönlichen Blick zu schulen und die Formensprache sowie Ausstrahlungsqualität des Gegenübers wahrnehmen zu lernen. Damit erweitert sich die Menschenkenntnis und wird aus einer rein subjektiven Beurteilung in eine offenere und wertschätzende Betrachtungsweise geführt.
Doch blicken wir zuerst einmal auf die Geschichte der Psycho-Physiognomik, denn diese Art der Menschenkenntnis hat sehr lange historische Wurzeln. Das sollten wir immer mit im Blick haben, wenn wir uns speziell in Deutschland gegen jedwede Form der Typologisierung wehren. An der Geschichte sehen wir, dass der Mensch seit Jahrtausenden Rückschlüsse vom Äußeren eines Menschen auf seinen Charakter zieht. Aus der Geschichte lernen und das Gute weiter nutzen zum Wohle der Menschen und der Entwicklung auf diesem Planeten, das sollte unser Ziel sein.
Ein Blick in verschiedene Zeiten und Kulturen
Ursprünglich kommen die ersten Beschreibungen von Typologien und die Lehre des „Gesichterlesens“ aus dem asiatischen Raum.
Die Ayurvedische Medizin des alten Indien beschrieb bereits vor 5.000 Jahren drei Grundtypen im Körperbau, denen sie bestimmte psychische Eigenschaften beimaß, die bestimmte Krankheiten entwickeln können und ganz gezielte therapeutische Begleitung erfordern. Die ayurvedische Medizin wird in dieser Ganzheit heute noch in Indien an der Universität studiert und bei uns in Deutschland gibt es zahlreiche Kliniken, die dieses Wissen verwenden. In der chinesischen Kultur entwickelte sich vor über 2500 Jahren ein komplexes System des Gesichterlesens, das organische wie psychologische Aspekte des Menschen beschreibt. Dieses Wissen wird auch heute noch in der traditionellen chinesischen Medizin gelehrt und angewandt. In diesem Lehrsystem wird das Gesicht wie eine Landkarte gelesen. Es können auch zeitliche Ereignisse im Lebensablauf erkannt werden.
Nach diesem Wissen der alten Kulturen Indiens und Chinas tauchte die Physiognomik in unserem Kulturkreis erst wieder bei den alten Griechen auf. Aus der griechischen Früh- und Hochkultur sind sehr viele physiognomische Betrachtungen überliefert. Im Tempel von Delphi finden wir die Aufschrift: “Mensch erkenne dich selbst – in dir selbst.” Selbsterkenntnis sollte der Anfang und die Basis für jedes sinnvolle Denken über Gott und die Welt sein. Erkenne dich selbst und werde der, der du bist. Finde dein Maß, das deinem Wesen entspricht. Die Selbsterkenntnis ist das Sprungbrett für die Freiheit. Der Mensch ist nur frei, wenn er zu sich selbst kommen kann. Dies setzt voraus, dass er sich selbst erkannt hat und wird, was er ist.
Von brillanten Denkern wie Pythagoras, Sokrates und Platon ist bekannt, dass sie die Physiognomie im täglichen Leben anwandten. Von ihnen gibt es viele geistreiche Bemerkungen auch im Zusammenhang mit dem äußeren Erscheinungsbild eines Menschen und seiner Natur. Pythagoras hat sich zum Thema Physiognomik geäußert und seine Schüler beispielsweise nach physio-gnomischen Kriterien ausgewählt.
Aristoteles (384—322 v. Chr.) stellte ganze Listen mit Merkmalen und ihrer Bedeutung auf. Er fasste in dem Buch „Physiognomica“ das gesamte physiognomische Wissen der damaligen Zeit in insgesamt sechs Kapiteln zusammen. Die erste systematische Physiognomik stammt von ihm. Die Wechselbeziehung von Körper und Seele als der Grundvoraussetzung für den Ausdruck war ihm durchaus klar. In dieser Zeit bereits entstand die Lehre von der Dreiteilung des Gesichts, die bis heute zu den Grundannahmen der Physiognomik gehört.
Hippokrates von Kos (460—375 v. Chr.) ist der Begründer der Patho-Physiognomik. Seine Genialität drang ein in die Zusammenhänge der sogenannten Säftemischungen und Verhaltensweisen, der heutigen Temperamentenlehre. Diese unterscheidet die vier Temperamente Melancholiker, Sanguiniker, Phlegmatiker und Choleriker. Bekannt ist er auch besonders aus der Medizin. Der Eid des Hippokrates wird von heutigen Ärzten zwar nicht mehr verpflichtend geleistet und natürlich auch nicht mehr in der klassischen Form. Aber noch heute hat der Eid des Hippokrates Einfluss auf die Formulierung von Alternativen. Mit großer Liebe zum Detail beobachtete der antike Arzt das menschliche Gesicht. Ihn interessierte vor allem, wie es sich etwa bei Fieber, schlechter Verdauung oder Gelbsucht verändert. Die Beschreibung des Todgeweihten wird heute noch “Facies hippokratika” genannt.
Damit begründete Hippokrates die Medizin-Physiognomik, eine Sparte, die zu den am wenigsten umstrittenen der gesamten Lehre gehört. Auch heute, im Zeitalter von Laborwerten und Ultraschall, achtet ein ganzheitlich arbeitender Arzt immer auf die Zeichen von Krankheit und Gesundheit im Gesicht seines Patienten.
Erst Paracelsus, eigentlich Theophrastus Bombastus von Hohenheim (1453—1541), übernahm wieder die Lehren des Aristoteles, beschäftigte sich aber nur am Rande mit der Physiognomik. Ihn interessierte vielmehr die “Signaturen-Lehre” der Pflanzen, die feststellte, wie diese aussehen, wie sie wachsen, wie sie auf den Menschen wirken können.
Blütezeit und Kritik
Die wirklich spannende Blütezeit der abendländischen Physiognomik aber begann in Europa vor rund 250 Jahren. Ab diesem Zeitraum ging die Lehre vielfältige Allianzen mit den jungen Naturwissenschaften ein und begann in die unterschiedlichsten Bereiche der Kunst einzufließen. Ab dann erzeugte sie mehr Begeisterung, aber auch schärfere Kritik als je zuvor.
Eine zentrale Persönlichkeit dieser Zeit war Johann Caspar Lavater (1741—1801), ein Zürcher Pfarrer, der sich unter dem Aspekt der Nächstenliebe mit Physiognomik beschäftigte. Er war geprägt von christlichem Gedankengut. Seine Motivation war es, den Nächsten, den wir lieben sollen, auch näher kennenzulernen. Lavater war vor allem „Gefühlsphysiognom.“ Er selbst betonte, dass er nicht in der Lage sei, die Wissenschaft „Physiognomik“ zu begründen. Er war aber schon zu seinen Lebzeiten sehr anerkannt und berühmt. Von den bedeutendsten Personen in Europa, von Fürsten, Schriftstellern, Künstlern, Gelehrten, Staatsmännern, Theologen oder Ärzten wurde er eingeladen – so häufig, dass er nicht allen Einladungen folgen konnte. Das Deuten von Gesichtern war eines der beliebtesten Gesellschaftsspiele an fast allen europäischen Königs- und Fürstenhöfen, in großbürgerlichen Salons und intellektuellen Zirkeln. Physiognomik war damals en vogue.
In dieser Zeit war die Physiognomik selbst in den Kreisen der Gelehrten, zu denen unter anderem Leibniz, Kant, Schopenhauer, Schelling, Hardenberg und Goethe gehörten, ein gern diskutiertes Thema. Sie alle förderten die Entwicklung der Physiognomik. Goethe und Schiller unterstützten sie sehr. Obwohl zuerst vehementer Kritiker, war es später sogar Goethe (1749 — 1832) selbst, der die Bücher von Johann C. Lavater in dem vierbändigen Werk „Physiognomische Fragmente“ vervollständigte. Goethe und Lavater verband eine jahrelange, intensive und herzliche Freundschaft, von der sich Goethe allerdings später wieder distanzierte.
Lavater stellte hohe Anforderungen an die Aufmerksamkeit und das Beobachten, an das analytische Wahrnehmen mit allen Sinnen, an das Gedächtnis, das vergleichende und logische Denken. Zum Beispiel äußerte er: „Ins Heiligtum der Physiognomik soll sich keiner wagen, der eine krumme Seele, ein verworrenes Denkleben, eine schiefe Wahrnehmung und verzerrte Gefühle hat.“ Oder: „Ein Auge, das alles sieht, wie es ist, das nichts hineinsieht, nichts übersieht, nichts schief sieht, ist die vollkommenste Vernunft und Weisheit.“
Ausdrucksformen der Kunst
So wie zur Zeit der Renaissance und Reformation die Frage nach dem Menschen und seiner Verantwortlichkeit für seine Seele erinnert wurde, so begann mit Baumgarten, Sulzer und Herder dieser Fragenkomplex neu aufzutauchen und sie machten sich Gedanken darüber, wie die Form der menschlichen Gestalt mit Funktionen und Charaktereigenschafen zu verbinden sei. Steht die Form für eine Symbolik des inneren Lebens? Künstler der Renaissance, die sich mit ausgiebigen Studien diesem Thema zuwandten und in ihren Meisterwerken ihr Wissen mit der Kunst zum Ausdruck brachten, waren Rahphael Santi, Michelangelo Buonarotti oder Leonardo da Vinci.
Franz Joseph Gall (1758—1828) ist ein weiterer bedeutender Mann in der Geschichte der Physiognomik. Er war Arzt und Forscher und beobachtete schon als Schüler die Stirn- und Augenanlage seiner Mitschüler. Als ausgesprochene Sammlernatur beobachtete er intensiv die Schädelformen in Bezug zum Verhalten des Menschen. Gall nahm von der Physiognomik Lavaters seinen Ausgang, doch verlegte er seine Forschungen ganz auf die Schädelausdruckskunde, die Phrenologie, die seine Stärke wurde. Damit war er einer der ersten Hirnforscher. Er entdeckte das Broca-Zentrum, wofür er nach wie vor anerkannt ist. Auch seine Erkenntnis, dass das Gehirn sich aus einer Vielzahl funktioneller, verschiedener Zentren zusammensetzt, war richtig. In Halle unterrichtete er auch Goethe, der sich sehr positiv über ihn äußerte.
Galls Beobachtungen wirkten sich auch auf seine Sicht von Krankheit und Therapie aus:
Er lehnte sich gegen die Anwendung von Gewalt gegenüber psychiatrischen Patienten auf.
Das Strafrecht und den Strafvollzug wollte er reformiert sehen. Zu Verbrechern gewordene Menschen seien auszubilden und in jeder Weise zu fördern, dass sie sich in den sozialen Organismus eingliedern könnten.
Im menschlichen Nervensystem sei die Möglichkeit der Erziehbarkeit, des Lernens und der Sozialisierung enthalten.
Im Gegensatz zu Lavater war er mehr der analytische Forscher, der von den Hypothesen zum Sichtbaren, direkt Beobachtbaren ging.
Carl Huter, der die Phrenologie prüfte und weitgehend übernahm, zum Teil korrigierte und ergänzte, schätzte Franz Joseph Gall und seine Schüler sehr. Er bedauerte, dass Gall die Kraft-Richtungs-Ordnung nicht kannte. Diese ist die Entdeckung von Carl Huter, der damit die Psycho-Physiognomik begründete und dem die Ausstrahlungsqualität eines Ausdrucksmerkmals wesentlich wichtiger wurde als die Form. Auf ihn und seine Lehre werden wir in der nächsten Ausgabe des Lebens.Werte-Magazins noch mehr eingehen.
Neurologen und Hirnforscher stellen heute in Frage, was lokal fixiert ist und verweisen auf die gigantischen Vernetzungsmöglichkeiten des Gehirns. Gerade im Bereich der Neurowissenschaften werden seit einigen Jahren enorme neue Erkenntnisse gewonnen.
Wir dürfen deswegen immer wieder skeptisch bleiben und neugierig schauen, was sich uns zeigt und bereit sein, unsere Sichtweise zu ändern. Das ist dann auch in gewisser Weise eine wissenschaftliche Herangehensweise. Denn alles entwickelt sich und ständig wird mehr erforscht und die Aufgabe unserer Zeit ist es, immer wieder offen zu bleiben, weiter zu lernen, uns zu entwickeln, um dem Leben und der Schöpfung zu dienen.
In der Herbstausgabe des Lebens.Werte-Magazins wird dieser Artikel seine Fortsetzung finden.
Das Wirken von Carl Huter
Das Wesen des Kindes entdecken
Autorin Erika Rau
Die Autorin Erika Rau ist seit 1984 in München als Heilpraktikerin tätig. Ihre Schwerpunkte sind die klassische Homöopathie, Atemtherapie AFA®, körperorientierte
Psychotherapie, Psycho-Physiognomische Beratung sowie Ernährungstherapie.
Sie ist Autorin von zwei Büchern und zahlreichen Artikeln in diversen Zeitschriften. Erika Rau wirkte zudem bei diversen Fernsehsendungen („Wir in Bayern”, „Notfalltherapie in der Homöopathie”) und Radiosendungen mit.
Sie hält Vorträge zu Themen der Impfaufklärung, Ernährungsberatung, Homöopathie und ist zertifiziert als Therapeutin, Supervisorin und Dozentin bei der Stiftung Homöopathie Zertifikat (SHZ). Mitglied im Stiftungsrat der SHZ.
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